Der Kreml verschärft mit seinem Umgang mit der Opposition die Lage in Russland – Experten: Protestbewegung ohne Programm

Moskau/Berlin. Als Wladimir Putin im September 2011 seine Kandidatur für eine Rückkehr in das höchste russische Staatsamt ankündigte, war er überzeugt, dass das Volk darüber glücklich sein würde. Die Realität holte ihn schnell ein. „Die Popularität Putins hat in den vergangenen zwei Jahren deutlich abgenommen und wir denken, dass sich der Trend fortsetzen wird“, sagt Michail Dmitrijew, Präsident des russischen Zentrums für Strategische Studien.

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Um die seit Dezember aufflammenden Massenproteste in den Griff zu bekommen, setzt die Staatsführung mit ihrem neuen Gesetz zur Verschärfung des Versammlungsrechts und Hausdurchsuchungen bei führenden Oppositionellen verstärkt auf repressive Mittel.

Die Hausdurchsuchungen hatten einen Sturm der Entrüstung in Russlands Oppositionsbewegung ausgelöst. „Ich hätte nie gedacht, dass wir auf solche Repressionen zurückfallen würden“, sagt die bekannte Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak, deren Wohnung ebenfalls durchsucht wurde. Gemeinsam mit dem Blogger Alexei Nawalni, dem linken Oppositionsführer Sergej Udalzow und dem liberalen Aktivisten Ilja Jaschin wurde Sobtschak am Dienstag, dem Nationalfeiertag, zu einem Verhör vorgeladen. Das Ziel der Behörden: Die Anführer der Opposition von der Großdemonstration in Moskau fernzuhalten, zu der am „Tag Russlands“ nach Angaben der Organisatoren 100.000 Menschen gekommen waren, gibt sich Jaschin überzeugt.

"Trotzhaltung“ der Opposition

Wie weit wird Putin mit dieser Einschüchterungspolitik kommen? Jens Siegert, der Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, glaubt an eine „Trotzhaltung“ der Protestbewegung. „Nun erst recht, hieß es in vielen Kommentaren, in denen auch oft bekannt wurde, eigentlich nicht demonstrieren gewollt zu haben“, schrieb Siegert im Vorfeld der Kundgebung in einem Internet-Blog.

Der aktuelle Konfrontationskurs des Kreml zeugt indes nach Ansicht russischer Experten von wenig Verständnis der Staatsführung für die Probleme der Menschen. Wenn populäre Leitfiguren der Opposition an den Protesten nicht teilnehmen dürften, ist das zwar ein schwerer Schlag für die Veranstalter. Allerdings: „Die Proteste werden nicht von der politischen Opposition getragen“, sagte der russische Politikwissenschaftler Nikolai Petrow vom Moskauer Carnegie Center der Nachrichtenagentur dapd. Die politische Opposition, die unter anderem aus Kommunisten und Udalzows radikaler Linksfront besteht, versuche lediglich, sich in die Bewegung einzuklinken, erläutert er.

Fachleute meinen deshalb, sowohl bei Regierung wie auch Opposition ein gewisses Maß an Planlosigkeit zu erkennen. „Die Opposition, die heute protestiert, hat kein Programm“, sagt Dmitrijew. Die heutige Protestbewegung, getragen von einer immer größer werdenden Mittelschicht, strebt laut einer Studie seines Instituts einen „ideologiefreien und pragmatischen Wandel“ an. Die dafür notwendige Organisationsstruktur hat sie jedoch nicht.

"Radikalisierung“ wohl unvermeidlich

„Die Ineffizienz der Protestbewegung hat damit zu tun, dass wir keine realen Parteien haben“, erklärt Oxana Gaman-Golutwina vom Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen. Die Forderungen der Protestbewegung nach Gerechtigkeit und politischer Transparenz könnten gar nicht artikuliert werden, solange es keine echten, neuen Oppositionsparteien gebe, sagt sie.

Auch Petrow rät der Staatsmacht, die Gründung neuer Parteien zu ermöglichen. Die Regierung solle ihre Optionen ausloten, um eine Verschärfung des Konflikts zu vermeiden, sagt er. Entsprechende Maßnahmen seien aber nicht zu erkennen.

Die dramatische Folge: Eine „Radikalisierung“ der Protestbewegung sei vermutlich unvermeidbar. Denn schon im Herbst dürften seiner Einschätzung nach die Proteste erneut aufflammen, nicht nur in Moskau, sondern auch anderswo. „Wenn es dem Kreml nicht gelingt, das Regime zu verändern, dann werden wir anstelle einer politischen Evolution eine politische Revolution erleben“, warnt Petrow.