Vom Ministerpräsidenten zum Energiekommissar: Nach 100 Tagen im Amt will Günther Oettinger Motor der Brüsseler Klimaschutzziele werden.

Hamburg. Wenn Günther Oettinger über die Aufgaben seines Amtes spricht, dann mischen sich inzwischen englische Vokabeln in seinen Redefluss. Der EU-Kommissar für Energie nennt "Targets", wenn er eigentlich Ziele meint. Vor 100 Tagen, als Oettinger sein Amt in Brüssel antrat, war es noch nicht so gut um sein weltläufiges Auftreten bestellt. Im Internet kursierten Videos des Schwaben, in denen er durch englische Reden stolperte und damit reichlich Spott auf sich zog. Deutschlands neues Gesicht im polyglotten Brüssel hatte es schwer am Anfang.

An den Fremdsprachenkenntnissen allein lag es nicht. Dem CDU-Politiker wurde nachgesagt, er sei von seiner Parteivorsitzenden und Bundeskanzlerin Angela Merkel vom Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten in die EU-Kommission abgeschoben worden. Und in Brüssel staunte man über die Nominierung der Kanzlerin. In der Europapolitik war Oettinger vorher nicht wirklich aufgefallen.

Den ganz großen Auftritt als Energiekommissar hat er bis heute noch nicht hingelegt. Er selbst findet das gar nicht so schlecht: "Ich bin ja ganz froh, dass ich nicht mit einem Notfall im Energiebereich in die Schlagzeilen geraten bin", sagt er dem Abendblatt. "Mein Kollege, Verkehrskommissar Siim Kallas, hat sich die Aschewolken in seinem Arbeitsprogramm auch nicht ausgesucht." Auch die Griechenland-Krise und die Euro-Rettung haben selbst mächtigere EU-Kommissare als Oettinger in den Schatten gestellt. "Wenn man eine EU-Richtlinie zur Energieeffizienz in Gebäuden auf den Weg bringt, dann ist das nicht spektakulär angesichts der Euro-Krise. Aber wichtig ist es trotzdem", findet Oettinger. Er sei mit den Möglichkeiten in seinem Amt "sehr zufrieden", betont er.

Seine Schlagzeilen werden wohl noch kommen. Spätestens Ende des Jahres, wenn er seinen Energie-Aktionsplan vorstellen will, könnte er im Rampenlicht stehen. Noch nicht in allen EU-Staaten ist angekommen, dass Energiepolitik inzwischen in europäischer Kompetenz liegt und Oettinger den Mitgliedsländern unangenehme Maßnahmen diktieren kann. "Wir stehen vor weitreichenden Entscheidungen der Gasinfrastruktur und Strominfrastruktur. Die Leitungsnetze müssen erweitert werden und effizienter werden", fordert der Kommissar.

Die Pipeline-Konsortien und Energie-Riesen werden das nicht gern hören. Denn wenn sie Oettingers zukünftigen Auflagen folgen, könnte das teuer für sie werden. Schon vor seinem Amtsantritt hatte sich Oettinger gegen die Mutmaßungen seiner Kritiker gewehrt, er werde in Brüssel als Lobbyist der Energiekonzerne auftreten. Er will die Gegner eines Besseren belehren. "Neben Infrastrukturfragen und erneuerbaren Energien wird ein besonderer Schwerpunkt des Aktionsplans auf der Energieforschung liegen", kündigt er an. Man werde da auch auf Public Private Partnership setzen. Und unter dem Stichwort Energieeffizienz sollen Programme für energetische Gebäudesanierungen von Bedeutung sein. Oettinger hat dabei die Klimaschutzziele der EU bis 2020 fest im Blick. Ein sportliches Ziel, wie Oettinger zugibt: "20 Prozent weniger Kohlendioxid-Ausstoß im Jahr 2020 ist nur möglich, wenn alle Bereiche des Energieverbrauchs einbezogen sind", mahnt er. Er sehe sich in der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Klimaschutzpolitik, sagt er. Oettinger - der Klimaschutzkommissar. Dieses Rollenverständnis hätte man dem Ex-Regierungschef kaum zugetraut.

Brüssel ist eben nicht Stuttgart, und Oettinger will diese neue Rolle: "Ich lerne noch dazu, und das jeden Tag. Brüssel ist eine neue kulturelle Dimension." Und in der belgischen Hauptstadt fühle er sich wohl. "Brüssel wird sicher noch mein Lebensmittelpunkt." Trotzdem bleibt Oettinger ein Pendler. Er will so oft wie möglich in Stuttgart bei seiner Familie und in Hamburg bei seiner Freundin sein, der Eventmanagerin Friederike Beyer.

Nur aus der deutschen Politik hält er sich weitgehend heraus. Auch über seinen Nachfolger in Stuttgart, Stefan Mappus, und dessen Duell mit Umweltminister Norbert Röttgen will er nichts sagen. Oettinger kennt die Grenzen seines Amtes inzwischen sehr gut. "Ich habe jetzt andere Gesprächspartner", sagt er. Dass ihn das auch manchmal betrübt, damit geht er offen um. "Das normale Gespräch mit den Menschen vermisse ich am meisten", sagt er. "Mir fehlen die Stammtische, die Turnfeste, all die Begegnungen, in denen es nicht nur um Verhandlungen, Fachdebatten und Emissionsrechte geht. Hier in Brüssel wird natürlich weniger darüber diskutiert, wie es dem VfB Stuttgart oder dem Hamburger SV geht. Aber man kann es sich nicht aussuchen."

Er kann es sich nicht aussuchen. Auch nicht die Tatsache, dass es in Brüssel ohne Englisch nun mal nicht geht. Aber auch da will Oettinger die Kritiker überzeugen: "Ich glaube, ich komme gut voran mit meinem Englisch. Ich kann bei jedem Gespräch, das auf Englisch geführt wird, gut mithalten", sagt er. "Ich vertraue auch auf meine Lernfähigkeit. Es gab noch keinen EU-Kommissar, der am Ende seiner fünfjährigen Amtszeit schlechter Englisch gesprochen hat als am Anfang."

Oettinger arbeitet an sich. "Abends schaue ich öfter ins Wörterbuch. Wenn es einen englischen Fachbegriff gibt, den ich nicht kenne, dann lerne ich ihn auf diesem Weg. So kommen jede Woche 10 bis 20 neue Wörter hinzu." Beim autodidaktischen Training soll es nicht bleiben. "Ich habe mir fest vorgenommen, in meinem Sommerurlaub einen Sprachkurs zu absolvieren. Ob ich das jetzt in England mache oder anderswo, ist noch nicht entschieden."