Der frühere baden-württembergische Ministerpräsident über seinen Start in Brüssel, die Zukunft der Kernenergie und den Umgang mit Atommüll.

Brüssel. Hamburger Abendblatt:

Herr Oettinger, wie haben Sie Ihre ersten Tage als EU-Kommissar erlebt?

Günther Oettinger:

Ich lerne Brüssel kennen wie jeder, der sich dienstlich und persönlich neu einleben muss. Aber die Stadt ist sehr interessant und meine Aufgaben sind sehr vielfältig.

Abendblatt:

Wie verstehen Sie sich mit Kommissionspräsident Barroso?

Oettinger:

Er ist ein Profi mit einer klaren Vision, und wir verstehen uns sehr gut. Energie und Klimaschutz sind ihm ein besonderes Anliegen. Ich zähle auf seine Unterstützung.

Abendblatt:

Ihr Chef ist Portugiese. Wie verständigen Sie sich?

Oettinger:

Er spricht meistens Englisch und wechselt ab und zu in die französische Sprache. Deutsch versteht er zumindest ausreichend.

Abendblatt:

In Deutschland werden weiterhin Mutmaßungen über Ihr Fremdsprachentalent angestellt. Harald Schmidt unterhält sein Publikum mit einer Rede, die Sie - nicht ganz sattelfest - auf Englisch gehalten haben. Ärgert Sie das?

Oettinger:

Nein. Mein Englisch ist für jedes Fachgespräch gut genug. Aber in Stuttgart oder Berlin habe ich deutsch gesprochen. Deswegen werde ich in den nächsten Wochen den Wortschatz vergrößern. In einem Jahr wird mein Englisch deutlich sicherer sein.

Abendblatt:

Verändert sich in Brüssel der Blick auf die deutsche Politik? Wie bewerten Sie beispielsweise die Debatte über den Sozialstaat, den Vizekanzler Westerwelle angestoßen hat?

Oettinger:

Nationale Themen finden auf der europäischen Ebene natürlich weniger Beachtung. Ich glaube, dass Minister Westerwelle eine Debatte angestoßen hat, die wichtig ist. Allerdings läuft er Gefahr, mit seiner Zuspitzung die Sachthemen eher zu verdecken, die mit dem Karlsruher Urteil zu Hartz IV auf die Tagesordnung gekommen sind.

Abendblatt:

Ufern in Deutschland die Sozialleistungen aus?

Oettinger:

Deutschland ist es gelungen, zwischen Kapitalismus und Sozialismus einen dritten Weg zu finden: die soziale Marktwirtschaft. Der wirtschaftliche Erfolg hat es möglich gemacht, das soziale Netz auszudehnen - weiter als in anderen EU-Staaten. Wichtig ist, dass der deutsche Sozialstaat nicht überfordert wird.

Abendblatt:

Was ist Ihr Eindruck: Wird Deutschlands Gewicht in Europa eher größer oder eher kleiner?

Oettinger:

Die EU wird sicherlich immer größer, Deutschland ist nur einer von 27 Mitgliedstaaten. Auf der anderen Seite wird Deutschland auf Jahrzehnte hinaus die größte Volkswirtschaft bleiben.

Abendblatt:

Ist Angela Merkel noch "Miss Europe"?

Oettinger:

Das ist sie ganz unverändert. Vielleicht ist Angela Merkel sogar stärker als jemals zuvor. Sie hat die Erfahrung von mehr als vier Amtsjahren - und dazu noch eine stabile Regierungsmehrheit. Das hilft ihr, in der Europäischen Union eine tragende Rolle zu spielen.

Abendblatt:

Was wollen Sie bewegen in den nächsten fünf Jahren als Energiekommissar?

Oettinger:

Energiepolitik verlagert sich immer mehr auf die europäische Ebene. Eines der wichtigsten Ziele wird sein, einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Wir müssen die Energieeffizienz steigern und stärker in erneuerbare Energien investieren, etwa in Windparks, Solarenergie und Biomasse.

Abendblatt:

Die EU will den Anteil erneuerbarer Energien bis 2020 auf 20 Prozent erhöhen. Ist das ehrgeizig genug?

Oettinger:

Der Ehrgeiz der Europäer allein wird nicht reichen. Andere Industriestaaten, vor allem aufstrebende wie China oder Indien, müssen sich ebenfalls bewegen. Sonst helfen wir dem Klima nur eingeschränkt und verschlechtern die Wettbewerbschancen der europäischen Industrie.

Abendblatt:

Also halten Sie sich zurück.

Oettinger:

Kopenhagen hat nicht den Erfolg gebracht, der wünschenswert gewesen wäre. Jetzt brauchen wir einen neuen Anlauf - am besten schon im Frühjahr auf dem Klimagipfel in Bonn. Wenn wir weltweit Partner gewinnen, können wir in Europa den CO2-Ausstoß auch um mehr als 20 Prozent verringern.

Abendblatt:

In den USA werden neue Atomkraftwerke gebaut. Welche Zukunft hat die Kernkraft in Europa?

Oettinger:

Darüber müssen die Regierungen und Parlamente der 27 Mitgliedstaaten entscheiden.

Abendblatt:

Ist die Kernkraft eine Ökoenergie?

Oettinger:

Ökoenergie ist erneuerbare Energie. Was die Kernkraft angeht, respektiere ich die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Österreich verzichtet auf Kernkraft, Frankreich setzt bei der Stromgewinnung fast ausschließlich auf Kernkraft.

Abendblatt:

Wie lange dauert es, bis erneuerbare Energien die Atomkraft ersetzen können?

Oettinger:

Schweden hat den Atomausstieg rückgängig gemacht. Deutschland sieht die Kernkraft als Brücke in die erneuerbare Welt. Die osteuropäischen Staaten wollen die Atomkraft auf lange Sicht in ihrem Energiemix haben. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Abendblatt:

Sind alle Kernkraftwerke in der EU sicher?

Oettinger:

Ich habe großes Vertrauen in die Kontrollbehörden. Sie lassen nicht zu, dass unsichere Kraftwerke am Netz sind. Die EU hat im Übrigen dafür gesorgt, dass in mehreren neuen Mitgliedsländern Kernkraftwerke vom Netz genommen wurden, weil sie die Sicherheitsstandards nicht erfüllten. Das war beispielsweise in Bulgarien und Litauen der Fall.

Abendblatt:

Haben Sie eine Lösung für den Atommüll?

Oettinger:

Wir brauchen Endlagerstätten, die langfristig nutzbar sind und den höchsten Sicherheitsstandards genügen. Die letzten Jahrzehnte sind dafür nicht optimal genutzt worden. In Deutschland wurde die Erkundung von Gorleben nicht vorangebracht. Wir haben in Europa längst nicht die Kapazität für die Endlagerung, die notwendig ist. Die Mitgliedstaaten müssen sich dringend um die Frage der Endlagerung kümmern. Die Europäische Kommission wird sicherstellen, dass höchstmögliche Standards eingehalten werden.

Abendblatt:

Nämlich wie?

Oettinger:

Wir bereiten eine Verordnung zur Entsorgung für Atommüll vor, die noch in diesem Jahr fertiggestellt werden soll. Über die Ausgestaltung werden wir in den kommenden Wochen intensiv mit den nationalen Energie- und Umweltministern sprechen. Um die Akzeptanz zu erhöhen, werden wir auch die Kraftwerksbetreiber einbeziehen. Der Kommission geht es um Sicherheitsvorschriften, die Bau und Betrieb von Lagerstätten betreffen. Standarddumping müssen wir in jedem Fall unterbinden. Die Asse in Niedersachsen ist ein warnendes Beispiel. So nachlässig darf mit Atommüll nicht umgegangen werden.

Abendblatt:

Herr Oettinger, Sie haben eine besondere Beziehung zu Hamburg. Ihre Partnerin Friederike Beyer lebt in der Hansestadt. Wird sie jetzt nach Brüssel ziehen?

Oettinger:

Friederike hat ihre Firma und ihren Kundenstamm in Hamburg. Deswegen wird sie dort bleiben, mich aber einen oder zwei Tage in der Woche in Brüssel besuchen. Wir suchen gerade eine Wohnung. Und jeden Monat will ich ein Wochenende in Hamburg verbringen.