Neue Regierung in London will die alten Fehden beenden und sich im Kompromiss üben. Zentrales Ziel ist Sanierung der Staatsfinanzen.

London. Mit der ersten Kabinettssitzung seiner Amtzeit eröffnete Großbritanniens neuer Premierminister David Cameron gestern eines der aufregendsten Kapitel der jüngsten Geschichte des Landes. Nach überraschend kurzer Zeit von nur fünf Verhandlungstagen hatten sich am Dienstag dieser Woche Konservative und Liberaldemokraten auf eine Koalitionsregierung geeinigt - etwas, was es in Großbritannien in Friedenszeiten zuletzt im Jahr 1931 gegeben hatte.

Die britische politische Kultur, inzwischen ganz auf Einparteienregierungen eingeschworen, muss plötzlich umschalten und die Tugend des Kompromisses erlernen, wo bisher Konfrontation und Konflikt an der Tagesordnung waren.

David Cameron und sein Stellvertreter, der Chef der Liberaldemokraten Nick Clegg, beide jugendliche 43 Jahre alt, ließen in ihrer ersten gemeinsamen Pressekonferenz in der Downing Street erkennen, dass sie aus dieser gänzlich neuartigen Situation das Beste machen und die Fehden, wie sie bisher zwischen beiden Parteien üblich waren, hinter sich lassen wollen. "Kooperation statt Konfrontation" kündigte Cameron an, um hinzuzufügen: "Kompromisse sind Zeichen von Stärke, nicht Schwäche."

Die beiden Koalitionsparteien bringen gänzlich unterschiedliche Parlamentsstärken auf die Waagschale - Tories 306 Unterhaussitze, die Liberaldemokraten, kurz "LibDems" genannt, 57. Diese Diskrepanz spiegelt sich auch in der Verteilung der Kabinettsposten: Cleggs Partei bekommt keines der klassischen Ressorts wie das Innen-, Außen-, Verteidigungs- oder Finanzministerium. Die vier Mitglieder der LibDems, die neben Clegg am Kabinettstisch sitzen, sind: Vince Cable für das Ressort Business und Banken; David Laws als "Chief Secretary" im Schatzamt; Chris Huhne für Energie und Umwelt; Danny Alexander als Minister für Schottland. Dafür erhalten die Liberalen 20 Stellen in der Ministerialbürokratie, vom Staatssekretär abwärts, was mehr als ein Drittel ihrer Abgeordneten in die Regierungsverantwortung einbindet.

Das Papier, das diese ungewöhnliche politische Eheschließung besiegelt, umfasst ganze sieben DIN-A4 Seiten - ein sprechender Unterschied zu den 133 Seiten Koalitionsvertrag in Berlin. Man will auch als Koalition rasch und ohne Umschweife zur Sache kommen. In den elf Punkten - von Reduktion des Haushaltsdefizits bis zur Umwelt - rangieren "Beziehungen zur EU" als Nummer neun: Europa ist im politischen Denken an der Themse momentan nicht vorrangig. Bezeichnenderweise brach der neue Außenminister William Hague gestern zu seinem ersten Auslandsbesuch nach Washington auf, zu einem Treffen mit seiner amerikanischen Amtskollegin Hillary Clinton.

Was Europa angeht, so hat sich die mehr EU-freundliche Haltung der Liberalen nur bei einem Aspekt durchgesetzt: Man will jetzt nicht mehr - wie die Tories im Wahlkampf angekündigt hatten - Hoheitsrechte von Brüssel nach London "repatriieren"; es heißt jetzt lediglich, dass keine weiteren solcher Rechte mehr an Brüssel abgegeben werden und jede Änderung der EU-Vertragslage einem Referendum vorgelegt werden soll. Auch wird das Thema "Beitritt zum Euro" für die Dauer der Amtszeit der neuen Regierung nicht auf die Tagesordnung kommen. Unberührt bleibt das enge Konsultationsgeflecht zwischen London und der EU bei Bekämpfung der wirtschaftlichen Krise. Die Dauer einer Parlamentsperiode soll per Gesetz in Zukunft auf fünf Jahre festgelegt werden. Damit entfällt das bisherige Recht des jeweiligen Regierungschefs, sich seinen Wahltermin innerhalb der Legislaturperiode selber auszuwählen. Die nächste Unterhauswahl wird also Anfang Mai 2015 stattfinden - falls die Koalition hält.

Die gestrige Kabinettssitzung - bitte keine Handys oder Blackberrys! - galt ganz dem Thema des enormen Haushaltsdefizits von 163 Milliarden Pfund (circa 177 Milliarden Euro). Auf jeden Fall wird der von Schatzkanzler Osborne angekündigte Plan, aus dem laufenden Budget sechs Milliarden Pfund an Kürzungen der öffentlichen Ausgaben herauszuschneiden, umgesetzt werden. Aber auch Steuererhöhungen bleiben für den geplanten Nachtragshaushalt nicht ausgeschlossen. Das Land blickt voller Erwartung auf Premierminister Cameron, den zwölften Amtsinhaber, den die 84 Jahre alte Queen in ihrer Dienstzeit erlebt.