Berlin. Ein abgehörtes Gespräch mit hohen Offizieren der Bundeswehr bringt den Kanzler in Bedrängnis. Die Soldaten geben Brisantes preis.

Es sind 38 Minuten, die heikel sind. Vor allem, weil sie nun öffentlich bekannt sind und im russischen Staatsfernsehen liefen. Weil sie kein gutes Licht auf die Bundeswehr und ihre Sicherheitsarchitektur werfen. Und weil Bundeskanzler Scholz in der Frage der Lieferungen von Marschflugkörpern vom Typ Taurus unter Druck steht. Es ist ein Spionage-Skandal, der zeigt, wie groß auch nach Jahren russischer Angriffe auf deutsche Kommunikationstechnik die Lücken im Sicherheitssystem immer noch sind. Mittlerweile ist klar: Der Mitschnitt ist echt, keine Fälschung.

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Nach eigenen Recherchen und Berichten anderer Medien nutzten die vier Spitzenoffiziere der Bundeswehr, darunter Luftwaffen-Chef Ingo Gerhartz, keine verschlüsselte Leitung, sondern die Videokonferenzsoftware Webex. Aus Singapur schaltete sich ein Offizier per Handy zu, anscheinend über das Wlan eines Hotels. Offenbar konnten Hacker das Gespräch, das am 19. Februar 2024 stattgefunden hat, abhören. Scholz hat Aufklärung versprochen, der Militärische Abschirmdienst der Bundeswehr (MAD) ermittelt. Verteidigungsminister Boris Pistorius sprach am späten Sonntagnachmittag von einem „Informationskrieg“ von Wladimir Putin gegen Deutschland.

Was wurde Brisantes in dem Gespräch abgehört?

In dem Gespräch bereden die Offiziere der Bundeswehr, welche Ziele die ukrainische Armee mit den deutschen Taurus-Marschflugkörpern im Krieg gegen Russland erreichen kann – falls Kanzler Scholz sein Nein zur Lieferung der Waffen doch noch überdenkt. Als Ziele nennen die Bundeswehr-Offiziere Munitionsdepots des russischen Militärs, vor allem aber die Kertsch-Brücke, die das Festland der Ukraine mit der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Krim-Halbinsel im Süden der Ukraine verbindet.

Gegen die Kritiker: Scholz bleibt bei Nein zu Taurus-Lieferungen

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    Das Gespräch ist informell, es dient dem Austausch, bevor Verteidigungsminister Boris Pistorius über die Waffe und die Einsatztaktik der Marschflugkörper in einem Briefing informiert werden soll. Die Offiziere spielen Szenarien durch, es sind Gedankenspiele – und doch werden sie sehr konkret, etwa wenn sie Einschläge an Brückenpfeilern durchsprechen.

    Unter Druck: Bundeskanzler Olaf Scholz.
    Unter Druck: Bundeskanzler Olaf Scholz. © Sebastian Kahnert/dpa | Unbekannt

    Vor allem in Nebensätzen fließen an mehreren Stellen heikle Informationen in die Unterhaltung ein, etwa dass auch „Menschen mit amerikanischem Akzent in Zivil“ in der Ukraine im Einsatz seien, gemeint sind offenbar amerikanische Geheimdienstler. Auch brisant: Britische Militärangehörige helfen demnach dem ukrainischen Militär vor Ort bei der Vorbereitung von Einsätzen mit Storm-Shadow-Marschflugkörpern. Luftwaffen-Chef Gerhartz bilanziert, dass – im Fall einer Lieferung – aus Deutschland maximal 50 Taurus in die Ukraine gehen könnten, vielleicht 50 weitere in einer zweiten Tranche, mehr jedoch nicht. Auch das sind pikante Details über den Bestand der Truppe.

    Warum setzt das Gespräch Kanzler Scholz unter Druck?

    Das abgehörte Telefonat hebt erneut das Thema der Taurus-Lieferungen auf die politische Agenda. Schon allein das ist ungünstig für Olaf Scholz, der sein klares Nein immer wieder rechtfertigen muss. Im vergangenen Jahr hatte die ukrainische Regierung um die Entsendung dieser Waffengattung gebeten, um russische Nachschublinien zu zerstören. Scholz lehnte ab – auch weil der keine deutschen Soldaten in der Ukraine sehen will. Die aber, so der Kanzler, bräuchte es, um die Marschflugkörper richtig einzusetzen.

    Nun aber bekommt Scholz ein Glaubwürdigkeitsproblem: Die Bundeswehr-Führungskräfte spielen Szenarien durch, in denen auch britische Spezialisten vor Ort den ukrainischen Soldaten beim Einsatz der Taurus unterstützen könnten. Oder: Deutsche Soldaten sitzen beim europäischen Rüstungskonzern MBDA und helfen den Ukrainern von dort aus mit der Taurus-Technik. Beide Varianten würden keine direkte Linie zur Beteiligung der Bundeswehr im Krieg in der Ukraine zulassen, so die Offiziere in dem Gespräch. Allerdings: Einig sind sich die Führungskräfte auch darin, dass Deutschland immer noch bei der Steuerung der Ziele helfen müsste, bei der Ausbildung der Piloten ohnehin. Es bleibt ein Abwägen der Optionen durch die ranghohen Soldaten.

    Wie sicher ist die Kommunikation der Bundeswehr?

    Vor allem steht eine Frage nun im Raum: Warum nutzten die Offiziere für das Gespräch mit durchaus brisanten Informationen eine ungesicherte Webex-Leitung? Deutlich wird: Die Software für Videokonferenzen ist ein breit genutztes Werkzeug in der Kommunikation der Behörden und Ministerien, nicht nur im Verteidigungsministerium und der Bundeswehr. Doch die Mitarbeitenden können auch andere Wege nutzen, etwa eine Software der Bundesanstalt für Digitaltechnik, die deutlich sicherer ist als Webex. Allerdings: Sie ist vom gleichen Anbieter, dem US-Konzern Cisco.

    EIn mögliches Ziel der Marschflugkörper: die Brücke zwischen Russland und der von Moskau völkerrechtswidrig annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
    EIn mögliches Ziel der Marschflugkörper: die Brücke zwischen Russland und der von Moskau völkerrechtswidrig annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. © Imago/Itar-Tass | Unbekannt

    Verantwortlich für den Schutz der Netze des Bundes ist eigentlich Deutschlands Cyberabwehrbehörde BSI in Bonn. Doch das Amt ist nicht zuständig für das Militär. Netzbetreiber der Bundeswehr ist eine externe Firma, die BWI mit Sitz bei Bonn ist „Digitalisierungspartner“ der Truppe. Zugleich gibt es im sogenannten Cyber- und Informationsraum der Bundeswehr Hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich um Sicherheit in der Kommunikation kümmern sollen, auch im Kampfeinsatz. Darunter das Kommando Informationstechnik-Services und das Zentrum Operative Kommunikation der Bundeswehr. Fachleute kritisieren: Allein die Vielzahl der Stellen führe zu einem Wildwuchs der Verantwortlichkeiten. Und das produziere Sicherheitslücken.

    Wie bewertet die Politik das abgehörte Gespräch?

    Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, bringt vor allem eine wichtige Forderung in die Debatte ein: „Erstens müssen umgehend alle Verantwortlichen auf allen Ebenen der Bundeswehr umfassend zu geschützter Kommunikation geschult werden“, sagte die SPD-Politikerin unserer Redaktion. Denn oftmals, so wissen es die Sicherheitsbehörden, ist nicht die Technik das Einfallstor für Spionage – sondern die Fehler von Menschen. „Zweitens muss gewährleistet sein, dass sichere und geheime Information und Kommunikation stabil möglich ist“, so Högl. Falls dies technisch nicht überall der Fall sei, müsse sofort nachgerüstet werden. Als dritte Forderung führt Högl an, mehr in die Abwehr von Spionage zu investieren.

    Boris Pistorius (SPD), Bundesminister der Verteidigung, und Eva Högl (SPD), Wehrbeauftragte des Bundestags, unterhalten sich im Bundestag.
    Boris Pistorius (SPD), Bundesminister der Verteidigung, und Eva Högl (SPD), Wehrbeauftragte des Bundestags, unterhalten sich im Bundestag. © DPA Images | Kay Nietfeld

    Die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) hat nun ebenfalls einen besseren Schutz sensibler Behördenkommunikation verlangt. „Das aggressive Agieren Russlands ist eine sicherheitspolitische Gefahr für unser Land. Schnellstmöglich müssen die neuen Abhörattacken aufgeklärt und mögliche Schwachstellen überprüft werden“, sagte Göring-Eckardt unserer Redaktion. „Russland führt Krieg auf allen Ebenen, auch einen Cyberkrieg gegen den Westen. Dazu gehören Cyberspionage und die jüngst aufgedeckten breiten Desinformationskampagnen. Russland will westliche Demokratien destabilisieren.“

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