Kiew. Russland setzt große Mengen an Soldaten und Militärgerät ein, um die Kleinstadt Awdijiwka zu erobern – und erleidet schwere Verluste.

Der Krieg in der dreht sich – zumindest teilweise. Im Sommer und im Frühherbst dominierten die Offensiv-Operationen der Ukrainer. Doch seit Wochen führt die russische Armee ihren größten Angriffsversuch seit dem Frühjahr durch. Das Ziel ist die industrielle Kleinstadt Awdijiwka im Donbass. Sie ist eine der groß ausgebauten Verteidigungsstellungen der Ukrainer in der zum Teil von Russland besetzten Region im Osten.

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So gut wie alle Versuche der Russen, nach ihrem Großangriff vom 24. Februar 2022 in diese Richtung vorzustoßen, waren kaum erfolgreich. Die russische Armee machte mehrere Anläufe, Awdijiwka einzunehmen – bislang vergeblich. Bereits im Frühjahr 2023 blieb von der vor dem Krieg rund 30.000 Einwohner zählenden Stadt kaum ein Gebäude unbeschädigt. Die in den vergangenen Wochen zunehmende Heftigkeit der Kämpfe und das Aufgebot an Menschen und Material erinnern an die Schlacht um Bachmut. Russland nehme dabei große Verluste in Kauf, heißt es in westlichen Geheimdiensten.

Ukraine: Einnahme von Awdijiwka würde Russland strategische Vorteile bringen

Dass es die Russen immer wieder versuchten, hat mehrere Gründe. Moskau will den gesamten Bezirk Donezk unter Kontrolle haben, nachdem er in einem Scheinreferendum im September 2022 zum Teil Russlands erklärt worden war. Die Verteidigungsanlagen der Ukrainer stören dabei. Außerdem wollen die Russen die Front verschieben: weg von der nahe Awdijiwka gelegenen Großstadt Donezk.

Vor allem aber: Würde es den Russen gelingen, Awdijiwka zu besetzen, hätten sie strategische Vorteile. Die Kleinstadt ist per Eisenbahn gut mit Donezk verbunden. Das würde den russischen Truppen bei der Logistik helfen: Sie könnten so tiefer in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete im Donbass eindringen.

Die Kämpfe der vergangenen Wochen erinnern an die Schlacht um Bachmut.
Die Kämpfe der vergangenen Wochen erinnern an die Schlacht um Bachmut. © Getty Images | Getty Images

Dass die Russen ihre Angriffsbemühungen um Awdijiwka zuletzt stark hochgefahren haben, hat noch einen anderen Grund. Sie wollen die ukrainischen Verbände zwingen, dass sie Soldaten von der Front im Süden abziehen und nach Awdijiwka verlegen. Den ukrainischen Truppen soll so die Luft für die Gegenoffensive ausgehen. Tatsächlich mussten die Ukrainer einige ihrer Reserven Richtung Awdijiwka entsenden.

Die Kämpfe weisen auch im militärtaktischen Sinn Parallelen zur blutigen Schlacht um Bachmut auf. Auch in Awdijiwka versuchen die Russen, die ukrainischen Einheiten zumindest zur Hälfte zu umzingeln. In den vergangenen Tagen ist es ihnen gelungen, einige wichtige Anhöhen nördlich der Kleinstadt teilweise zu besetzen.

„Die Verluste des Feindes sind so groß wie in den ersten Tagen des Krieges“

Ob dieser kleine Vormarsch im Verhältnis zu den hohen Verlusten an Menschen und Material steht, ist zumindest fraglich. Die Zahl der Getöteten und Verwundeten lässt sich nicht quantifizieren. Doch im Netz kursieren Fotos und Videos, wonach die Russen Dutzende von Kampfpanzern und insgesamt mehr als 200 Stück Militärtechnik verloren haben. Die russischen Soldaten beim Kampf um Awijiwka sind besser ausgebildet als die Kräfte bei der Schlacht um Bachmut. Dort waren vor allem Söldner der Privatarmee Wagner im Einsatz.

„Die Verluste des Feindes rund um Awdijiwka sind so groß, dass sie sogar mit denen in den ersten Tagen des Krieges vergleichbar sind“, schreibt der gewöhnlich gut informierte ukrainische Militärkorrespondent Bohdan Myroschnykow. „Ganz offensichtlich wollen die Besatzer die strategische Initiative um jeden Preis erlangen. Bei Awdijiwka geht gerade eine der bedeutendsten Schlachten des gesamten Krieges weiter.“ Der russische Journalist Dmitrij Kusnez von dem in Lettland sitzenden Medium Meduza betont: „Der Ausgang der Schlacht um Awdijiwka ist völlig offen.“

Trotzdem halten die Ukrainer an ihren Offensivplänen fest. Sie versuchen, im Süden Richtung der Städte Tokmak und Melitopol vorzustoßen. Daran dürfte auch das langsam schlechter werdende Wetter nichts ändern. Allerdings sind dort kurzfristig keine Geländegewinne zu erwarten. Die Ukrainer konzentrieren immer mehr Kräfte auf dem ukrainisch kontrollierten westlichen Ufer des Flusses Dnipro im teils besetzten Bezirk Cherson. Insbesondere Brigaden der Marineinfanterie sind daran beteiligt.

Ein größerer amphibischer Landungsversuch auf dem östlichen Ufer des Dnipro scheint keineswegs ausgeschlossen. Kleinere Testangriffe dieser Art hat es in diesem Jahr bereits mehrmals gegeben. Sie wurden aber lediglich von kleinen Gruppen der ukrainischen Spezialeinheiten durchgeführt. Sollte es den Ukrainern gelingen, auf das von den Russen kontrollierte östliche Ufer des Dnipro vorzudringen, könnte dies eine neue Dynamik in den Krieg bringen. Klassische große Offensiven haben bisher nur begrenzt funktioniert. Der russische Angriff auf Awdijiwka ist ein Beispiel dafür.