Berlin. Ein Anker beschädigt die Ostsee-Pipeline Balticconnector. Die genauen Umstände liegen im Dunkeln. Was wir wissen – und was offen ist.

In der Asservatenkammer wird es eng. Groß und sechs Tonnen schwer ist das Beweisstück, das die finnische Ermittlungsbehörde NBI sichergestellt hat. Es führt zur Lösung eines Rätsels, das tagelang die düstersten Fantasien über Sabotage und Geheimdienste beflügelt hat. Doch bis auf Weiteres ist dies kein Spionagethriller, sondern einerseits die Chronik eines Unfalls, andererseits mehr als eine bloße Schadensmeldung.

Zu Schaden kam eine Pipeline, die Erdgas von Estland nach Finnland führt. Ein Politikum in diesen Tagen – in Zeiten des Ukraine-Kriegs. Erinnerungen werden wach an den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipeline vor einem Jahr, der bis heute viele umtreibt, Ermittler, Geheimdienstler, Journalisten. Viele Theorien, keine Beweise. Da ist der Fall der Ostsee-Pipeline Balticconnector anders. Er scheint aufgeklärt.

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Die „Tatwaffe“ liegt in der Asservatenkammer: ein Anker. Er wird dem chinesischen Frachtschiff „Newnew Polar Bear“ zugeordnet. An der Pipelinestelle fanden Taucher passende, anderthalb bis vier Meter breite Schleifspuren auf dem Meeresboden, darüber hinaus einen “kürzlich gebildeten großen Erdklumpen, der wahrscheinlich ein extrem schweres Objekt enthält“.

Pipeline: Russland ist eine kalte Spur

Der Anker also. Am Dienstag wurde er geborgen und untersucht. Er weist Kontaktspuren auf, während die Schleifspuren zur Schadensstelle an der Leitung führen, so Risto Lohi von der finnischen Kriminalpolizei. Jeder kann sich ausmalen, welchen Schaden Anker anrichten können. Manche sind 20 Tonnen schwer oder noch schwerer. Sie können durchaus ein Loch in der 150 Kilometer langen Pipeline zwischen Inkoo in Finnland und Paldiski in Estland reißen. Die Wucht war groß.

Finnland: Kriminalinspektor Risto Lohi (l.) und der Leiter der Kriminalpolizei Robin Lardot bei einem Briefing.
Finnland: Kriminalinspektor Risto Lohi (l.) und der Leiter der Kriminalpolizei Robin Lardot bei einem Briefing. © dpa | Heikki Saukkomaa

Das seismologische Institut Norwegens registrierte am 8. Oktober eine „mutmaßliche Explosion“. Der Betreiber spürte erst mal einen plötzlichen Druckabfall in der Pipeline. Balticconnector wurde daraufhin geschlossen. Die Reparatur wird sich nach Angaben des Betreibers über Monate hinziehen. Erst 2019 war die Röhre in Betrieb genommen worden. Seitdem Russland im Mai 2022 die Erdgaslieferungen stoppte, ist es die einzige Leitung für Nato-Neumitglied Finnland, um Gas zu importieren.

Schon nach zwei Tagen, am 10. Oktober, teilte die Regierung in Helsinki mit, dass die Gaspipeline mutmaßlich durch Fremdeinwirkung beschädigt worden sei. Spontan fiel der Verdacht auf Russland, das ein politischer Nutznießer des Ausfalls der Pipeline wäre. Doch Kremlchef Wladimir Putin ließ umgehend dementieren.

Zerstörte Pipeline: Absicht oder Versehen?

Zur Tatzeit befanden sich zwei Schiffe am Tatort – darunter das russische Boot „Sevmorput“. Angeblich war es dabei, die Pipeline zu kartieren. Schon mit den Nord-Stream-Anschlägen war es in Verbindung gebracht worden.

Zur Sicherheit und Lenkung des Seeverkehrs tauschen Schiffe über Funk ihre Navigationsdaten aus. Aufgrund dieses Identifikationssystems – Automatic Identification System (AIS) – lässt sich stets die Position feststellen. Auf vielen Trackingseiten im Internet kann man leicht nachschauen, wer wo unterwegs ist, von der Segeljacht bis zum Kreuzfahrtschiff.

Natürlich lässt sich AIS ausschalten. Die Marine tut das unter bestimmten Bedingungen, Nachrichtendienste würden aus Geheimhaltungsgründen nicht zögern. Aber „Newnew Polar Bear“, das unter der Flagge von Hongkong fährt, hat regelkonform seine Daten übermittelt. Und siehe da: Zeitpunkt und Position des Schiffes stimmen mit Tatort und Tatzeit überein.

Der Frachter „Newnew Polar Bear“ soll die Pipeline beschädigt haben. Versehentlich oder absichtlich?
Der Frachter „Newnew Polar Bear“ soll die Pipeline beschädigt haben. Versehentlich oder absichtlich? © picture alliance | Heikki Saukkomaa/Lehtikuva

Um 1.12 Uhr zeichneten die Verkehrsdaten laut Ermittlungsbehörden auf, dass das Schiff über der Erdgas-Leitung auf knapp einen Knoten verlangsamte und fast zum Stehen kam. Laut Daten der Website „Marinetraffic“ meldete der Container zum Zeitpunkt des Stopps als Status „auf See festgemacht“. Das transparente Vorgehen der Chinesen spricht für einen Unfall. Oder für eine Sabotage, die auf raffinierte Weise wie eine Panne aussehen soll. Eine perfekte Legende für eine Geheimdienstaktion?

China will bei der Aufklärung helfen

Wurde der Schaden versehentlich oder mit Absicht verursacht? Am plausibelsten ist, dass der Anker kilometerlang geschleift, mit der Pipeline zusammenstieß und von der „Newnew Polar Bear“ abgerissen wurde. Natürlich hat die Polizei versucht, mit dem Kapitän des Schiffes in Kontakt zu treten. Doch der antwortete nicht. Untersuchen konnte man das Boot bislang auch nicht, weil es russische Gewässer aufsuchte.

Die „Tatwaffe“: der tonnenschwere Schiffsanker.
Die „Tatwaffe“: der tonnenschwere Schiffsanker. © DPA Images | Anna Rantanen Krp

Als die Verdachtsmomente langsam erdrückend wurden, stellte Chinas Außenministerium klar, dass es mit Finnland und „anderen Parteien“ Kontakt halte und bereit sei, in Übereinstimmung mit internationalem Recht nötige Unterstützung anzubieten. Man hoffe, „dass sich die relevanten Parteien an die Prinzipien Objektivität, Fairness, Unbefangenheit und Professionalität halten werden, um so bald wie möglich die Wahrheit herauszufinden“.

Die finnische Polizei geht offensiv vor. Sie teilte mit, es gebe Berichte über Beobachtungen, denen zufolge der Anker am linken Bug der „Newnew Polar Bear“ zu fehlen scheine. Zudem publizierte sie Fotos von Pipeline und Anker. Man könnte fast von einer „Smoking Gun“ reden – von einem rauchenden Colt, dem Synonym für einen eindeutigen Beweis.

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