Berlin. Nach den Terrorattacken der Hamas ist Israel zu einer großen Bodenoffensive bereit. Welche Folgen hat das? Fünf mögliche Szenarien.

Israel hat seine Bodenoffensive im Gazastreifen mit schweren Luftangriffen vorbereitet. Welche Folgen hat die Militäroperation? Welche Szenarien sind denkbar – und wie weit kann sich der Krieg ausweiten?

1. Kurze Bodenoffensive und begrenzter Krieg

Israel startet nach tagelangen schweren Luftangriffen eine Bodenoffensive in den Gazastreifen. Die Streitkräfte schalten die Führungsfiguren der Terrororganisation Hamas aus, die für die grausamen Angriffe in Israel verantwortlich waren. Die Netzwerke der Islamisten werden innerhalb weniger Wochen zerstört. Israelischen Spezialkommandos gelingt es, die von der Hamas in den Gazastreifen verschleppten Geiseln zu befreien.

2. Lange Bodenoffensive und begrenzter Krieg

Israels Bodenoffensive zieht sich in die Länge. Israelische Einheiten und Spezialkommandos werden in einen blutigen und verlustreichen Häuserkampf mit der Hamas verstrickt. Der Militäreinsatz wird erschwert, weil die Terrorgruppen Menschen als Schutzschilde benutzen – etwa in Krankenhäusern, Moscheen, Schulen oder Wohnhäusern. Die Hamas versucht immer wieder, mit Sprengfallen das Vorrücken der israelischen Soldaten zu verhindern. Nach Angaben aus Jerusalem verfügt die Hamas über rund 20.000 Kämpfer im Gazastreifen.

Darüber hinaus haben die islamistischen Terroristen in den vergangenen Jahren unter dem Gazastreifen ein weit verzweigtes Tunnelsystem gebaut. Nach israelischen Schätzungen befinden sich die Röhrengänge in einer Tiefe von bis zu 40 Metern und erstrecken sich über Hunderte von Kilometern. Durch die Tunnel werden Waffen geschmuggelt und Terroristen transportiert. Israelische Militärs gehen davon aus, dass sich ein Teil der Geiseln – wenn nicht alle – in dem unterirdischen Labyrinth befinden. Die Befreiung der Verschleppten ist daher eine äußerst heikle Mission.

Eine lange Bodenoffensive der israelischen Armee ist ein mögliches Szenario.
Eine lange Bodenoffensive der israelischen Armee ist ein mögliches Szenario. © AFP | ARIS MESSINIS

Um die Infrastruktur des Hamas-Terrors zu zerstören, müssen die Israelis das Tunnelsystem komplett sprengen. Das kostet vermutlich mehrere Monate Zeit. Israels Feldzug gegen die Hamas bleibt aber in diesem Szenario ein begrenzter Krieg, der sich nicht auf die weitere Region ausweitet.

3. Zwei-Fronten-Krieg

Bereits kurz nach Beginn der israelischen Luftschläge auf Ziele im Gazastreifen hatte der Iran Jerusalem vor einer Eskalation gewarnt. Das heißt, dass Israel mit einem Zwei-Fronten-Krieg rechnen muss: Attacken kommen in diesem Szenario sowohl aus dem Gazastreifen als auch aus dem Libanon. Dort sitzt die mit dem Iran verbündete schiitische Hisbollah-Miliz. Sie hat bereits in den vergangenen Tagen Ziele in Israel mit Artillerie und Raketen angegriffen. Israel antwortete mit Gegenattacken. An der Grenze zum Libanon hat Israel einen rund vier Kilometer breiten Sicherheitskorridor errichtet und 28 Ortschaften evakuiert.

Nach israelischen Angaben besitzt die Hisbollah, deren politischer Arm im Libanon das Sagen hat, ein viel größeres Arsenal als die Hamas. Die Miliz soll über rund 50.000 Kämpfer und bis zu 200.000 moderne Kurz- und Mittelstreckenraketen verfügen. Hat die Hamas noch genug Feuerkraft und schießt die Hisbollah täglich mehrere Tausend Raketen Richtung Süden ab, wird Israel militärisch in die Zange genommen. Die Bodenoffensive im Gazastreifen bindet relativ viele Kräfte, die möglicherweise im Norden fehlen. Der Iran stellt sowohl für die Hamas als auch die Hisbollah Waffen und militärisches Training bereit.

4. Drei-Fronten-Krieg

In diesem Szenario kommt Israel nicht nur durch die Hamas und die Hisbollah unter Druck. Das Land wird zusätzlich durch iranische Milizen und Revolutionsgarden angegriffen, die im Irak und in Syrien stationiert sind. Für Teheran gehören diese Länder wie auch der Libanon zur „Achse des schiitischen Widerstandes“. Das strategische Ziel dieser Staaten und Gruppierungen: die Zerstörung des „zionistischen Gebildes“ (Israel) und die Schaffung eines Groß-Palästinas. Das Mullah-Regime begreift sich seit der Islamischen Revolution 1979 unter Ajatollah Chomeini als Erzfeind Israels.

Die entscheidende Frage in diesem Konflikt: Tritt der Iran in den Krieg gegen Israel ein oder nicht? US-Präsident Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken haben das Mullah-Regime unmissverständlich gewarnt: „Tut es nicht!“ Amerika hat die Flugzeugträger „USS Gerad R. Ford“ und „USS Dwight D. Eisenhower“ sowie eine Reihe weiterer Kriegsschiffe und Kampfjets als Abschreckung ins östliche Mittelmeer entsandt.

Bislang hat Teheran auf dem politischen Schachbrett in Nahost Figuren bewegt, aber nicht direkt eingegriffen. Es hat schiitische Milizen im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen militärisch und finanziell unterstützt. Auch die brutalen Attacken der Hamas auf Israel sind mit ihrer mindestens einjährigen Vorbereitungszeit ohne Mitwissen des Irans samt Koordinierung im Hintergrund nicht denkbar.

Auch ein Krieg mit mehreren Fronten ist eine Option.
Auch ein Krieg mit mehreren Fronten ist eine Option. © AFP | GIL COHEN-MAGEN

Das schiitische Regime dürfte die Lage zunächst beobachten. Die nächsten Schritte werden auch von Israel abhängen. Zeigt Israel im gegenwärtigen Krieg Schwäche, könnte sich Teheran zu einer Intervention ermutigt sehen. Das Gleiche gilt für den Fall, dass die Gegenoffensive im Gazastreifen mit einer hohen Zahl ziviler Opfer bei den Palästinensern verbunden wäre.

Die iranische Führung wird in diesem Fall zunächst versuchen, zusammen mit möglichst vielen arabischen Staaten eine Koalition gegen Israel zu schmieden. Bislang hat Teheran jedoch immer kühl kalkuliert und zu hohe Risiken gescheut.

5. Der ganz große Krieg

Sollte der Iran doch Kriegspartei werden, multiplizieren sich die Angriffe von Hisbollah, Hamas und schiitischen Milizen. Spätestens dann kommt Israel in existentielle Bedrohung. In diesem Fall ist ein Einsatz amerikanischer Kriegsschiffe und Kampfjet-Geschwader wahrscheinlich. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die mutmaßliche Atommacht Israel als Ultima Ratio den Iran mit Kernwaffen attackiert. Eine nukleare Gegenreaktion Teherans ist zumindest im Bereich des Möglichen. Das Land hat den Atombombenbaustoff Uran bis zu 60 Prozent angereichert. Selbst israelische Experten gehen davon aus, dass der Iran genug Material hat, Nuklearbomben zu bauen, auch wenn es noch an der entsprechenden Raketentechnologie fehlt.

Amerikas Eintritt in den Krieg wird auch Russland auf den Plan rufen, was im Ukraine-Krieg eine Waffenbrüderschaft mit dem Iran hat. Präsident Wladimir Putin wird wegen des kostspieligen Ukraine-Einsatzes wahrscheinlich nicht direkt in den Krieg eingreifen – zumindest nicht zunächst. Aber es wird Teheran mit Waffenlieferungen unterstützen.

Kommen all diese Faktoren zusammen, kann der ganz große Flächenbrand entstehen. Bislang hat allerdings keiner der maßgeblichen Akteure Interesse an einer XXL-Eskalation. Doch der Nahe Osten ist aufgeheizt wie lange nicht. Die Dynamik des gegenwärtigen Krieges ist nicht berechenbar.