Droht Israel ein Krieg an mehreren Fronten? Im Gespräch mit unserem Reporter spricht Arye Sharuz Shalicar über die aktuelle Lage.

Arye Sharuz Shalicar (47) ist Sprecher der israelischen Armee. Er wurde in Göttingen als Sohn iranischer Juden geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über einen möglichen Zweifronten-Krieg, die Bedrohung durch den Iran und die bevorstehende Bodenoffensive der israelischen Armee gegen Gaza.

Herr Shalicar, am Sonntag gab es im Norden Israels mehrere Raketen- und Artillerieangriffe aus dem Libanon. Wie schätzen die israelischen Streitkräfte die Situation ein – droht eine zweite Front?

Die Hisbollah beschießt Israel seit einer Woche. Seit einer Woche befinden wir uns im Norden in einer kriegerischen Situation. Jeden Tag finden Kampfhandlungen statt, derzeit allerdings in einer nicht sehr ausgeprägten Intensität. Aber wir haben null Toleranz, was diese Angriffe aus dem Libanon betrifft.

Was heißt das?

Wovon aus sie auch immer auf uns schießen, reagieren wir sofort, um ein klares Zeichen zu setzen. Wir sagen ihnen auch, dass sie nach Gaza schauen sollten, um zu verstehen, wie es ihnen ergeht, wenn sie eine zweite Front eröffnen. Wichtig ist aber zu betonen, dass die Hisbollah kein Einzelspieler ist, sondern vom Mullah-Regime im Iran gesteuert wird.

Es dürfte der Hisbollah klar sein, wie hart die israelische Antwort bei einem größeren Angriff ausfallen wird. Befürchten Sie, dass der ideologische Hass auf Israel größer ist als das nüchterne militärische Kalkül?

Das rationale Denken demokratischer und freier Menschen, die das Leben lieben, ist ihnen fremd. So nehmen sie die Realität nicht wahr. Seit dem Ende des letzten Libanonkrieges im Jahr 2006 graben sie sich immer tiefer in der zivilen Infrastruktur im Südlibanon ein. Sie operieren vor allem aus Wohngebieten in Hunderten kleinen Städten und Dörfern heraus.

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Die Hisbollah hat in den vergangenen Jahren ihr Raketenarsenal massiv aufgestockt und verfügt über wirkungsvollere Geschosse als die Hamas. Kann Israel das in den Griff bekommen?

Die Hisbollah besitzt 150.000 bis 200.000 Raketen. Einige Dutzend bis einige Hundert können sämtliche Gebiete in Israel erreichen. Schon von der Reichweite ist das etwas ganz anderes als das Szenario in Gaza. Außerdem verfügt die Hisbollah über Raketen, die sehr präzise sind und eine enorme Sprengkraft haben. Deswegen ist die Hisbollah eine weitaus größere und mächtigere Terrororganisation als die Hamas. Sie ist eigentlich eine Terror-Armee.

Israels Armeesprecher Arye Shalicar im Gespräch mit Außenministerin Annalena Baerbock.
Israels Armeesprecher Arye Shalicar im Gespräch mit Außenministerin Annalena Baerbock. © Photothek via Getty Images | Florian Gaertner

Wäre Israel in der Lage, sich militärisch in einem Zweifronten-Krieg zu behaupten?

Die Hisbollah möchte derzeit den Fokus etwas von der Gaza-Front verschieben. Sie wollen uns die Arbeit erschweren. Man muss sich klarmachen, dass sowohl die Hisbollah im Libanon als auch die Hamas und der Islamische Dschihad im Gazastreifen von den iranischen Revolutionsgarden gesteuert werden. Der Iran ist an allem beteiligt.

Gibt es Beweise dafür, dass die iranischen Revolutionsgarden die Terrorattacke mit Beratern am Boden aktiv unterstützt haben?

Darauf kann ich derzeit nicht eingehen. Aber wer sich mit Gaza, dem Libanon, Syrien, dem Irak oder Jemen beschäftigt, weiß, dass die Berater und Geldgeber sehr vieler Terrororganisationen in diesen Regionen in Teheran sitzen.

Also ist auch ein Krieg mit dem Iran vorstellbar?

Israel hat kein Interesse an einem Krieg mit der Hisbollah, dem Libanon oder anderen Staaten um uns herum. Wir hatten auch kein Interesse an kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Hamas oder dem Islamischen Dschihad. Aber wenn auf uns geschossen wird, wissen wir uns zu verteidigen. Wir haben aus der Shoah gelernt, dass wir uns als Juden verteidigen müssen.

Israel hat angeordnet, dass die Dörfer und Städte in einem Korridor zwei Kilometer nahe der Grenze zum Libanon evakuiert werden sollen. Wie weit sind diese Evakuierungsmaßnahmen fortgeschritten?

Seit einer Woche gehen Menschen schon von allein aus der Nähe der Grenze weg und kommen im Zentrum des Landes unter. Nahe der libanesischen Grenze schweben Zivilisten derzeit genauso wie an der Grenze zu Gaza potenziell in Lebensgefahr.

Wann beginnt die Bodenoffensive gegen Gaza?

Ich habe von Journalisten gehört, wir hätten irgendwas verschoben. Keine Ahnung, woher diese Information stammt. Niemand aus dem Generalstab und keiner der Sprecher hat gesagt, wie der Zeitplan ist. In den letzten vier Tagen haben wir viel getan, um die Zivilbevölkerung in Gaza zu warnen und sie aufzufordern, den Norden und insbesondere Gaza-Stadt zu verlassen. Es gab bis vor zwei Tagen zwei sichere Straßen in den Süden – jetzt nur noch die Salah-al-Din-Straße – die wir nicht angegriffen haben, weil wir den Menschen den Raum geben wollten, sich in Sicherheit zu bringen, bevor Israel die nächste Phase im Kampf gegen die Terrororganisation Hamas einleitet.

Von der Salah-al-Din-Straße gibt es Videos, auf denen brennende Autowracks und Leichen auf dem Asphalt zu sehen sind. Die Hamas sagt, die israelische Armee habe einen Flüchtlingskonvoi bombardiert. Ist das korrekt?

Hamas – das sind dieselben Leute, die vor eineinhalb Wochen 1300 Menschen brutal ermordet haben. Sich auf die Hamas zu beziehen, ist so ähnlich, wie sich auf den Chef des Islamischen Staates zu beziehen. Man sollte sich selbst fragen, wie glaubwürdig die Hamas ist. Außerdem nutzt die Hamas jede positive Geste Israels gegenüber der Zivilbevölkerung eiskalt aus.

Die Vereinten Nationen erheben auch schwere Vorwürfe gegen Israel. Sie sagen, das israelische Vorgehen widerspreche dem Völkerrecht. Wie reagieren Sie darauf?

Haben Sie schon einmal gehört, dass die UN die Hamas auffordern, die eigene Bevölkerung in Sicherheit zu bringen? Haben die UN die Hamas und ihre Hintermänner aufgefordert, die bis zu 200 Geiseln, darunter Kinder und Babys, sofort freizulassen? Davon habe ich nichts gehört. Ich habe den Eindruck, dass in bestimmten Kreisen auf internationaler Ebene wieder versucht wird, die Situation zu relativieren. Nach einem so brutalen Massaker an über 1300 israelischen Menschen, nach einem Blutbad, an dem die Terroristen Freude hatten, wie man auf Videos sieht, sollte die freie, demokratische Welt geschlossen hinter Israel stehen.