Mexiko-Stadt. Das Ende des US-Einreiseverbots sorgt für große Unruhe. Joe Biden will auf den Ansturm „geordnet“ reagieren – doch das wird schwierig.

Wenn man Irineo Mujica fragt, was nun am Donnerstag an der Grenze zu den USA passieren wird, dann wählt er eine drastische Formulierung. „Was da auf die Vereinigten Staaten zukommt, ist ein Tsunami“, sagt der Experte von der Migrantenorganisation „Pueblo sin Fronteras“ (PsF). Mujica hat in den vergangenen Wochen eine Karawane von ursprünglich rund 3000 Menschen auf ihrem Weg durch Mexiko begleitet und er weiß: „Überall im Land sitzen Migrantinnen und Migranten und warten.“ Das US-Heimatschutzministerium geht davon aus, dass etwa 150.000 Flüchtlinge im gesamten Norden Mexikos in den Startlöchern stehen.

Die Regierung des damaligen US-Präsident Donald Trump hatte im Frühjahr 2020 angeblich zum Schutz vor der Ausbreitung des Coronavirus die als „Title 42“ bekannte Vorschrift erlassen, die es dem Grenzschutz erlaubte, ankommende Zuwanderer und Schutzsuchende an der Grenze zurückzuweisen. Es ist mehr als 2,5 Millionen Mal passiert in diesen Jahren. Die Grenze zu den USA zwischen Tijuana am Pazifik und Matamoros am Golf von Mexiko ist 3200 Kilometer lang.

USA: Präsident Biden versprach „menschlich“ und „geordnet“ zu reagieren

Das Ende des Einreiseverbots sorgt nun von Süd- bis Nordmexiko für Unruhe. In Tapachula an der Grenze zu Guatemala spielen sich seit Tagen dramatische Szenen ab, weil die Migranten um die begehrten Passierscheine kämpfen, die Mexiko für 45 Tage für eine sichere Durchreise bis an die US-Grenze ausstellt. In und um Mexiko-Stadt herum leeren sich seit Tagen bereits die Migrantenherbergen. Und auch an der Nordgrenze packen Zehntausende ihr Bündel und klopfen wieder an den Grenzzaun.

Zahlreiche Migranten gehen am Rande einer Landstraße in Richtung Norden. Die Karawane ist am Sonntagmorgen in der Stadt Tapachula gestartet.
Zahlreiche Migranten gehen am Rande einer Landstraße in Richtung Norden. Die Karawane ist am Sonntagmorgen in der Stadt Tapachula gestartet. © dpa | ISAAC GUZMAN

Am Dienstag berieten US-Präsident Joe Biden und sein mexikanischer Kollege Andrés Manuel López Obrador eine Stunde über das Auslaufen von „Title 42“ und versprachen, auf den erwarteten Ansturm der Migranten „menschlich“ und „geordnet“ zu reagieren.

Die Menschen fliehen vor Armut, Gewalt und Naturkatastrophen

Wenn die Regelung ausläuft, wollen Frauen und Männer aus aller Welt in den USA Asyl beantragen. Nicaraguaner, Kubaner, Venezolaner und Haitianer hoffen zudem auf eine der monatlichen 30.000 Aufenthaltserlaubnisse, die Washington für diese vier Länder ausgelobt. Aber die Mehrzahl der Migranten werden wie bisher auch als „Mojado“, als Migrant ohne Papiere, die Löcher im Zaun finden, unbemerkt durch die Wüste wandern oder den Grenzfluss Rio Grande durchschwimmen. Diese „illegale Migration“ hat auch „Title 42“ nicht aufgehalten.

Die Menschen fliehen aus ihren Herkunftsländern vor Armut, Gewalt, autokratischen Regimen, Naturkatastrophen und der Organisierten Kriminalität. „Aber längst sind es nicht mehr nur die Ärmsten der Armen, die sich auf den Weg machen,“ sagt Dieter Müller, Vertreter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko im Gespräch.

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Auch die gut ausgebildete Mittelschicht sucht angesichts der wirtschaftlichen und staatlichen Kollapse in Ländern wie Kuba, Haiti und Venezuela der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Deswegen ist der typische Migrant auch nicht mehr der junge Mann, der allein wandert. „Immer mehr Frauen, Minderjährige, ganze Familien und auch sexuell Diverse sind unterwegs“, betont Müller, Kenner der Migrationslage in Lateinamerika.

Bürgermeister von El Paso hat den Notstand ausgerufen

Bis zu 12.000 Migranten befänden sich derzeit allein in Ciudad Juárez und würden voraussichtlich die Grenze überqueren, sobald die Regelung ausläuft, warnt Óscar Leeser, Bürgermeister von El Paso, der texanischen Zwillingsstadt von Ciudad Juárez. Er hat schon länger den Notstand in seiner Stadt ausgerufen und könnte die Migranten in Busse setzen und einfach etwa nach New York schicken, wo gerade neue Aufnahmezentren aufgebaut wurden. Kongressabgeordnete der Republikaner warnen davor, dass in den kommenden drei Monaten eine Million Migrantinnen und Migranten in die USA drängen könnten.

Hunderte Migranten nähern sich in der mexikanischen Stadt Ciudad Juarez der US-Grenze, um am Donnerstag doch endlich in die USA zu gelangen.
Hunderte Migranten nähern sich in der mexikanischen Stadt Ciudad Juarez der US-Grenze, um am Donnerstag doch endlich in die USA zu gelangen. © nadolu Agency via Getty Images

Bis Donnerstag wollte Jhoan Barrios nicht mehr warten. Der Venezolaner ist nach schier endlosen vier Monaten der Wanderung aus seiner venezolanischen Heimatstadt Barinas durch den gefährlichen Darién und ganz Zentralamerika und Mexiko vor ein paar Tagen in Juárez angekommen und hat die Geduld verloren.

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Der 33-jährige Manager einer Bekleidungsfabrik hat in den vergangenen Wochen den ganzen Horror der Migration erlebt. Er hat im Darién-Dschungel Tote gesehen, ist mehrfach überfallen und ausgeraubt worden, wurde krank und lief sich die Füße wund. An Umkehren haben er und seine Frau dennoch nie gedacht: „Wir haben alles verkauft, in Venezuela ist kein würdiges Leben mehr möglich, da geht man auch vor die Hunde“, sagt er.

Migrationsforscherin warnt vor falschen Erwartungen

Kaum war er in Juárez angekommen, hat er versucht, über die App CBP One einen Asylantrag zu stellen. „Aber die App bricht immer zusammen.“ Also entschloss er sich, den Weg über die grüne Grenze zu nehmen. „Wir wollten am Durchgang 43 rüber, aber da haben die Mafias und mexikanische Soldaten auf uns geschossen“, erzählt er über WhatsApp. In den USA hat er im Bundesstaat Tennessee Bekannte, zu denen er will.

Migrationsforscherin Inés Barrios versucht, die Erwartungen zu dämpfen. „Die Migranten glauben, dass das Ende des Titels 42 ihnen die Türen zur Einreise in die USA und zur Beantragung von Asyl öffnet“. Aber das Gegenteil sei der Fall. Nach dem 11. Mai werde jeder, der versucht, irregulär einzureisen, abgeschoben, so Barrois. Diese Norm im Einwanderungsgesetz schreibt fest, dass jeder, der illegal in die USA einreist, abgeschoben wird. Es droht sogar eine fünfjährige Einreisesperre.