Del Rio. Immer mehr Migranten überqueren die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Seit Joe Biden Präsident ist, spitzt sich die Situation zu.

Wenn Chuck Champion morgens seinen knapp 40 Jahre alten BMW startklar macht, um in die Innenstadt von Del Rio zu fahren, weiß der pensionierte Mechaniker der Laughlin Air Force Base in Texas schon an der ersten Kurve, wie viele Flüchtlinge in der Nacht über den hier oft nur hüfthoch Wasser führenden Grenzfluss gekommen sind.

„Die Leute lassen ihre nassen Sachen am Wegesrand liegen“, sagt der 62-Jährige auf seinem Grundstück direkt am Rio Grande. „Dann kommt die Grenzpolizei und transportiert sie ab.“

Einwanderung an der Südgrenze – Bidens Schuld?

Seit Joe Biden im Weißen Haus regiere, erzählt Champion, der sich selbst als moderaten, fremdenfreundlichen Republikaner bezeichnet, nehme die feuchte Altkleidersammlung „ziemliche Ausmaße an“. Dolores, seine Frau, nickt. Sie ist einst selbst aus Mexiko in die USA eingewandert.

Laut Troy Miller, Chef der Custom and Border Protection (CBP), kamen allein von Februar bis Ende April knapp 500.000 Menschen illegal über die knapp 3200 Kilometer lange Südgrenze, die höchsten Zahlen seit 20 Jahren. „Sorry, aber das war unter Donald Trump nicht so. Daran sind Bidens Botschaften schuld“, sagt Champion.

Flüchtlinge aus Südamerika: Man sieht den Menschen die Erschöpfung an

Die Konsequenzen tragen Leute wie Tiffany Brown. Die weißhaarige Frau managt in Del Rio, einer 36.000-Einwohner-Stadt, die Val Verde Border Humanitarian Coalition, die einzige Organisation zur Erstbetreuung von Flüchtlingen, denen nach Prüfung gestattet wurde, bis zum Gerichtstermin über ihr Asylgesuch im Land zu bleiben.

Hier werden vor allem Paare oder einzelne Elternteile mit Kindern aus Venezuela versorgt. Die Erschöpfung steht ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Viele leihen sich Mobiltelefone. Unter Tränen werden Angehörige informiert: „Ja, wir haben es geschafft.“ Francois und Michelle, sie hochschwanger, hätten es aus Haiti über Südamerika binnen drei Monaten per Auto, Schiff, Bus und zu Fuß über die Grenze geschafft.

Ein texanischer Grenzpolizist nimmt die Personalien der Migranten auf.
Ein texanischer Grenzpolizist nimmt die Personalien der Migranten auf. © AFP/Getty Images | Getty Images

„Wir sind glücklich, aber körperlich und psychisch am Ende“, erzählt der 28-Jährige und kaut hastig auf einem Schinken-Sandwich. Gayle (82), eine freiwillige Helferin, berichtet, „dass auch Afrikaner und Kubaner“ kommen. Andernorts wird auch von Rumänen und Indern berichtet.

Im Februar lud die Grenzbehörde 464 Menschen bei Tiffany Brown ab, damit sie kurz verschnaufen und sich mit Secondhand-Kleidung und Wasser versorgen konnten. Dann ging es am selben Tag per Greyhound-Bus auf die Reise zu Verwandten oder Sponsoren zwischen Los Angeles und New York. Das nötige Geld war meist über Überweisungsdienstleister wie Moneygram bereits geschickt. Im März waren es bereits über 2000 Hilfesuchende, erzählt Brown.

USA: 300.000 Erwachsene nach Mexiko abgeschoben

Für die christlich geprägte Frau ist klar, dass das Weiße Haus für die „große Konfusion“ verantwortlich ist. „In den Ursprungsländern weiß niemand, wer kommen kann und wer nicht.“

Was hat Joe Biden denn anders gemacht als Trump? Bei allein reisenden Erwachsenen, im Schleuserjargon „Llegadas“ genannt, nichts. Sie werden, falls sie nicht rechtzeitig untertauchen, rigoros zurück nach Mexiko abgeschoben. Über 300.000 Mal war das von Fe­bruar bis April der Fall.

Anders sieht es bei Familien aus. Trump trennte zur Abschreckung Eltern und Kinder. Die Erwachsenen wurden deportiert. Die Kinder kamen über Wochen in dubiose Übergangseinrichtungen. So entstanden die berüchtigten „Käfigbilder“.

Tiffany Brown (l.) hilft Flüchtlingen ehrenamtlich
Tiffany Brown (l.) hilft Flüchtlingen ehrenamtlich © Dirk Hautkapp

Biden lässt Familien oder Elternteile mit einem Kind nach Kurzprüfung ins Land. Allein im April kamen rund 67.000. Auch unbegleitete Kinder und Jugendliche, über 36.000 zwischen März und April, durften bleiben. Das hat sich herumgesprochen im verarmten, von Gewalt und Korruption betroffenen Hinterhof der USA.

Aber selbst wenn es gelänge, den Zustrom aus Guatemala oder Honduras, El Salvador oder Nicaragua zu drosseln – das Problem bliebe. Über die Trump-Jahre hat sich in Mexiko ein Sammelbecken von 100.000 Menschen gebildet, die dort unter haarsträubenden Bedingungen auf ihre zweite Chance warten.

Kämen sie in die USA, würde der Rückstau hier noch länger. Bis ein Asylfall endgültig entschieden ist, vergehen oft zwei Jahre. In den Karteien des Justizministeriums lagern bereits jetzt 1,3 Millionen unerledigte Fälle.

Corona-Pandemie hat Krise verschlimmert

Pastor Mike Smith, der Chef des 1880 zur Förderung hispanisch-stämmiger Schüler gegründeten Holding-Instituts, sitzt an einem heißen Nachmittag Ende Mai auf der Couch seiner Einrichtung im Herzen von Laredo und schüttelt den Kopf. „Anfang Januar hatten wir zehn Leute pro Woche, um die wir uns kümmern mussten. Seit Ende Februar sind es 200 bis 250 – am Tag. Das geht nicht mehr lange gut.“

Auch das Holding-Institut fungiert 290 Kilometer südlich von Tiffany Browns Team als humanitäre Drehscheibe. Durch Corona ist alles ins Rutschen geraten. Smith lässt auf eigene Kosten testen und impfen. „Fast zehn Prozent der Ankömmlinge sind infiziert. Wir mussten nebenan was anmieten, um die Leute in Quarantäne zu kriegen.“

Asylsuchende berichten von Trauma-Erfahrungen

Nelson und Isis Rodriguez (Nachname geändert) sitzen unterdessen im Garten der Einrichtung unter einem Magnolienbaum. Das Paar aus der Nähe von San Pedro Sula in Honduras war mit Sohn Abdil (5) fast drei Monate unterwegs. Ein Freund, der in West Palm Beach (Florida) lebt, hat ihnen das Geld für die „Coyotes“, die Schlepper, vorgestreckt. „Wir werden lange arbeiten müssen, um es zurückzahlen zu können“, sagt Nelsons Frau.

Geflohen ist die Familie, „weil es einfach nicht mehr ging“. Honduras „ist kaputt, korrupt und lebensgefährlich“, so Nelson, „die beiden Hurrikane 2020 haben uns den Rest gegeben“. Als Beleg zeigt er ein Foto von sich vor den Überresten seines Hauses – das Wasser bis zum Schlüsselbein.

Sie erreichten durch eine Lücke in der Mauer die USA.
Sie erreichten durch eine Lücke in der Mauer die USA. © Getty Images via AFP | APU GOMES

Ehefrau Isis steigen die Tränen in die Augen. „Wir haben viel Gewalt und Leid gesehen auf unserer Reise. Aber wir hatten Glück.“ Maria sitzt mit Tochter Lydia-Sofia (2) auf einem Feldbett daneben und nickt. „Da sind Dinge passiert, über die ich nicht reden will.“ Die 23-Jährige wartet auf den Bus nach Denver (Colorado). Ihr Mann lebt da. „Er hat die Tickets schon bezahlt.“

Flüchtlingssituation nützt im Wahlkampf den Republikanern

Für Joe Biden ist die Lage an der Südgrenze brenzlig. Die Republikaner rühren 17 Monate vor den Zwischenwahlen im Kongress die Nationalismustrommel. Bei knappen demokratischen Mehrheiten kann sich das auszahlen. Zumal Bidens eigene Leute auf die Barrikaden gehen.

Bruno „Ralphy“ Lozano, der demokratische Bürgermeister von Del Rio, sagte neulich mit Blick auf den Flüchtlingszustrom, „nicht die Küche, die ganze Nachbarschaft steht unter Wasser“. Aber das Weiße Haus hantiere weiter mit „Heftpflastern“.