Kassel/Kabul/Islamabad. Seit Jahren kämpfen Eltern aus Afghanistan darum, dass ihr zehn Jahre alter Sohn zu ihnen nach Deutschland darf. Bisher ohne Erfolg.

An einem Augustmorgen in diesem Jahr ist der zehn Jahre alte Emran Rahimi einem Leben in Deutschland so nah wie noch nie. Einem Leben ohne Angst, vor allem aber ist er seiner Familie so nah wie noch nie, seinem Vater, den drei Geschwistern in Deutschland. 6000 Kilometer Luftlinie entfernt in Kassel.

Gemeinsam mit seiner Mutter geht der Junge an diesem Sommertag durch die schmalen Nebenstraßen im Botschaftsviertel von Islamabad, der Hauptstadt Pakistans. Zwischen Bäumen und einem kleinen Park, zwischen Häusern der Auslandsvertretungen und einer Busstation führt die „Street 3“ zum Gebäude der „Britisch High Commission“. Die Visa-Abteilung der deutschen Botschaft hat hier ihre Büros.

Die Mutter will ihren Sohn zu sich nach Kassel holen

Emran und seine Mutter Nafisa sollen das „Tor 5“ passieren. Für viele Menschen aus Afghanistan ist die deutsche Visa-Abteilung in Pakistan so etwas wie das Nadelöhr einer teuren, gefährlichen und beschwerlichen Flucht aus ihrer Heimat. „Tor 5“ – ein Tor zu einem besseren Leben. Wenn es gut läuft.

Emrans Mutter ist aus Kassel angereist, 1400 Euro zahlte sie für den Flug, seit einigen Tagen ist sie in Islamabad. Sie will ihren Sohn zurückholen. Zu sich holen, nach Kassel. Endlich.

Reporter Christian Unger (r.) mit der Familie Rahimi in Kassel.
Reporter Christian Unger (r.) mit der Familie Rahimi in Kassel. © Uwe Zucchi | Uwe Zucchi

In Afghanistan hat Emran das Visum über Jahre nicht bekommen, nun regieren dort die Hardcore-Islamisten der Taliban. Eine deutsche Abteilung für Visa-Angelegenheiten gibt es in Kabul nicht mehr. Die meisten Afghanen, die nach Deutschland wollen, müssen es hier in Islamabad versuchen. Hier hinter Tor 5.

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Unsere Redaktion verfolgt Emrans Geschichte seit mehr als einem Jahr. Wir besuchten die Eltern in Kassel, reisten zu dem Jungen und seinem Großvater nach Afghanistan, sprechen immer wieder mit dem Vater, aber auch mit Verwandten und Freunden der Familie in Deutschland. Auch Behördendokumente, Ausweise und Fotos zu dem Fall konnte unsere Redaktion einsehen. Um Teile der Familie, die noch in Afghanistan leben, und den Jungen zu schützen, sind ihre Namen geändert.

Vor einem Jahr berichteten wir in einer großen Reportage über den Fall. Viel ist passiert seitdem, für Emran, für die Eltern – und doch auch nicht viel, auf Seiten der Behörden.

Emran, zehn Jahre alt, lebt seit fast einem halben Jahr in Pakistan

Die Geschichte von Emran und seinen Eltern ist besonders, weil Vater und Mutter sich legal in Deutschland aufhalten, aber ihr Kind seit Jahren nicht zu ihnen darf. Mutter Nafisa Rahimi zog schon vor das Auswärtige Amt und demonstrierte für ihren Sohn.

Eine Mitarbeiterin der Caritas setzte sich in einem Brief an den Bundespräsidenten für die Familie ein, die Bürgermeisterin von Kassel macht sich für die Familie stark. Sogar die Ausländerbehörde gab ihre Zustimmung für eine schnelle Bearbeitung des Falls, schon im April.

Das ist notwendig, weil Saheed Rahimi nur ein „Abschiebeverbot“ als Aufenthaltstitel hat – und damit nur mit Zustimmung der örtlichen Behörden ein Recht auf Familiennachzug hat. Die Trennung der Eltern vom Sohn gilt als Härtefall. Bisher aber ohne Folgen.

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Es fehlt: das Visum. Emran, zehn Jahre alt, lebt seit fast einem halben Jahr in Pakistan. Seine Mutter musste im November abreisen, ihr Visum für Pakistan lief ab. Nun ist der Großvater aus Kabul bei dem Jungen, sie teilen sich ein angemietetes, kleines Zimmer in Peschawar, 200 Kilometer östlich der Hauptstadt. Dort sind die Preise für die Miete billiger.

„Die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen, als wolle er sich selbst festhalten“

Die Wochen gemeinsam mit der Mutter in Pakistan waren ein Moment der Hoffnung und des Glücks für den Zehnjährigen. Auf Fotos ist der Junge in einem Fastfood-Restaurant zu sehen, er trägt einen Teller mit Burgern, er lächelt. Dann gibt es ein Foto, auf dem Emran auf einem Bett sitzt, die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen, als wolle er sich selbst festhalten. Neben ihm liegt seine Mutter. Sie hat kurz zuvor erneut einen Zusammenbruch gehabt, weil sie ihren Jungen wieder verlassen muss.

Emrans Mutter Nafisa in der Kasseler Wohnung. Sie fuhr schon nach Berlin und demonstrierte vor dem Außenministerium für ein Visum für ihren Sohn. 
Emrans Mutter Nafisa in der Kasseler Wohnung. Sie fuhr schon nach Berlin und demonstrierte vor dem Außenministerium für ein Visum für ihren Sohn.  © Uwe Zucchi | Uwe Zucchi

Auch in Kassel bekommt Mutter Nafisa immer wieder epileptische Anfälle. Vater Saheed, sagt, er nehme Schlaftabletten, um nachts wenigstens ein paar Stunden zur Ruhe zu kommen. Sein Rücken schmerzt, sein Kopf auch.

„Ich kann nicht mehr lachen, ich kann auch nicht weinen, es kommt kein Wasser in meine Augen, in meinem Herz ist nur Schmerz“, sagt er. Mit den Händen reibt er über sein Gesicht, schaut nicht in die Kamera von seinem Handy, sein Blick schweift durch das Kasseler Wohnzimmer.

Jeden Tag spreche er mit seinem Sohn über das Handy. Nur manchmal nicht, weil das Internet in Pakistan nicht stabil funktioniere. Immer gebe es nur ein Thema für Emran: Wann komme ich zu euch, Papa? Was ist mit dem Visum? Der Vater antwortet: „Ich sage ihm immer nur: du musst warten. Warten, warten, warten.“

Vater Saheed sieht, wie sein Sohn immer weniger glaubt, dass er nach Deutschland reisen kann. Woche für Woche. Und wie die Vorwürfe lauter werden: Warum tut ihr nichts? Warum habt ihr mich hier allein gelassen? Habt ihr meine Schwestern lieber als mich? Diese Sätze sage Emran am Telefon. Seine Fragen lassen auch die Vorwürfe wachsen, die Vater und Mutter sich selbst machen.

Schon vor der Machtübernahme der Taliban fliehen Hunderttausende Menschen

Und so ist dieser Fall doch typisch, weil Tausende geflohene Eltern und Kinder in Deutschland darauf warten, dass sie wieder vereint sind. Weil Behörden sich gegenseitig die Verantwortung für das Schicksal der Familien zuschieben – und am Ende dabei wenig herauskommt.

Schon vor der Machtübernahme der Taliban fliehen Hunderttausende Menschen aus Afghanistan, haben genug von Jahrzehnten des Krieges und der Gewalt. Ein Netzwerk an Schlepperbanden nutzt die Not aus, schleusen die Menschen über den Iran und die Türkei in Richtung Europa. Zugleich versuchen die EU und Deutschland Ordnung in das Migrationschaos zu bringen.

Die Bundesregierung rettete bisher mehr als 20.000 Menschen aus Afghanistan

Und immer wieder hebt die Politik hervor, wie sehr sie sich verantwortlich zeigt für Afghanistan, vielmehr noch nach der Flucht der westlichen Alliierten und der Bundeswehr aus dem Land. „Wir werden diese Menschen nicht in Stich lassen“, sagte Außenministerin Baerbock.

„Wir handeln und erfüllen unsere humanitäre Verantwortung“, sagte Innenministerin Faeser. Beide Politikerinnen meinen vor allem die von den Taliban bedrohten Menschen, Journalistinnen, Anwälte, Menschenrechtler, frühere Regierungsmitglieder.

Mit einer aufwendigen Luftbrücke rettete die Bundesregierung mit Hilfe von Organisationen wie „Kabul Luftbrücke“ bereits mehr als 20.000 Afghaninnen und Afghanen. Ein Aufnahmeprogramm, das holprig startete, soll bald monatlich 1000 weitere Menschen nach Deutschland holen. Die Nachfrage aus Afghanistan aber ist um ein Vielfaches höher, die E-Mail-Postfächer der deutschen Helfer laufen über. Und all das kommt hinzu zu den Familien, die schon im Verfahren für eine Aufnahme nach Deutschland sind.

Afghanistan, Kabul: Seit mehr als einem Jahr regieren wieder die Hardcore-Islamisten der Taliban – sie unterdrücken vor allem die Frauen in dem Land.
Afghanistan, Kabul: Seit mehr als einem Jahr regieren wieder die Hardcore-Islamisten der Taliban – sie unterdrücken vor allem die Frauen in dem Land. © dpa | Ebrahim Noroozi

Im Sommer rettete Deutschland auch die beiden Tanten von Emran. Eine arbeitete als Journalistin, die andere als Juristin bei der Regierung. Sie beide gelten als gefährdet im neuen Taliban-Regime. Sie beide kamen raus. „Wir konnten es Emran erst nicht sagen, er hätte es nicht verstanden, dass sie nach Deutschland kommen, aber er als Kind bleiben muss“, sagt Vater Saheed.

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Es sind die verschiedenen Pfade des Asylrechts, die darüber entscheiden, wer kommen darf und wann. Diese Wege sind unterschiedlich schnell. Bei manchen – den Gefährdeten – klappt es oft ganz plötzlich, fast unerwartet, mit der Ausreise. Beim Nachzug von Familienmitgliedern aber dauert es oft lange. Monate, manchmal Jahre.

Die deutschen Visa-Stellen sind völlig überlaufen. Vor allem in Pakistan und Indien, den Regionen, die verantwortlich für Afghanistan sind, aber auch in anderen Staaten in Afrika und Nahost. Wartezeiten für Termine zur Familienzusammenführung sind über Monate nicht zu bekommen, Bearbeitungszeiten in den Botschaften dauern noch einmal so lange, überall fehlt Personal.

Vater Saheed flieht schon 2015 aus Afghanistan, Islamisten hatten ihn bedroht

Zwar konnten beim Familiennachzug laut Bundesregierung die Wartelisten reduziert werden, Mitarbeiter wurden aufgestockt. Im Vergleich zum Vorjahr konnte die Zahl der Auslandsvertretungen mit Wartezeiten von über einem Jahr von sieben auf vier gesenkt werden. Islamabad gehört nicht dazu. Für Emran heißt das: warten, warten, warten.

Der Fall der Familie ist aber auch deshalb typisch, weil auch die Geflüchteten in Deutschland oft schnell spüren, dass ihre Hoffnung auf ein neues Leben in Deutschland selten so wird, wie Menschen es sich vorher ausmalen. Wie es die bunten Bilder aus Hollywoodproduktionen des Westens ihnen versprechen. Auf der Flucht sind Träume und geplatzte Träume nah beieinander.

Vater Saheed flieht schon 2015 aus Afghanistan. Islamisten hatten ihn bedroht, weil er für die damalige Regierung Korruption bekämpfte, erzählt er. Nach einem Jahr in einem Flüchtlingsheim in Deutschland erfährt er, dass seine drei Jahre Tochter in Kabul einen Tumor im Kopf hat.

Die afghanischen Ärzte und eine deutsche Organisation helfen der Familie, das Kind und die Mutter können für Operation und Krebstherapie nach Deutschland. Nur Emran bleibt zurück, bekommt kein Visum. Schon damals nicht. Emran selbst wird zu einer Art Versicherung der deutschen Behörden, dass die Familie nicht in Deutschland bleibt.

„Wir essen weniger, wir sparen bei neuer Kleidung“

Der Junge bleibt bei seinen Verwandten in Kabul, den Tanten, den Großeltern. Es soll nicht für lange sein. „Ich komme wieder“, habe Nafisa Rahimi ihrem Sohn in den letzten Momenten am Flughafen damals noch gesagt. Sie musste sich entscheiden, zwischen ihm und ihrer kranken Tochter. Das ist sechs Jahre her.

Doch die Eltern bleiben mit der kranken Tochter in Deutschland, weil die Ärzte einer Freiburger Klinik ihre Therapie eng überwachen, alle paar Monate muss sie auf Station, Blutabnahme, Ultraschall, bis heute.

Emrans Vater Saheed mit dem jüngsten Kind, Dezember 2021, genau vor einem Jahr. Schon damals verlor die Familie langsam Hoffnung, dass sie ihren Sohn nach Deutschland holen kann.
Emrans Vater Saheed mit dem jüngsten Kind, Dezember 2021, genau vor einem Jahr. Schon damals verlor die Familie langsam Hoffnung, dass sie ihren Sohn nach Deutschland holen kann. © Uwe Zucchi | Uwe Zucchi

Sechs Jahre, in denen die afghanische Familie darum kämpft, wieder zusammenzuleben. In denen sie Geld nach Afghanistan schickt, damit die Verwandten sich um Emran kümmern können. „Wir essen weniger, wir sparen bei neuer Kleidung“, sagt Vater Saheed. Gerne würde er mit seinen Kindern in diesen Ferien mal ins Kino gehen. „Aber dafür ist kein Geld da.“

Sechs Jahre, in denen die Eltern etliche Mal bei deutschen Behörden anklopfen, in denen sie manchmal Hoffnung schöpfen, und immer öfter verzweifeln. Je länger die Trennung der Familie anhält.

Das Auswärtige Amt teilt auf Nachfrage mit, man wolle nun über den Fall entscheiden

Vater Saheed sieht, wie sein Sohn wächst und älter wird. 2015 konnte Saheed ihn das letzte Mal sehen, in den Arm nehmen. Im Dezember vor einem Jahr war Emran kleiner, wirkte zerbrechlich und schüchtern, als unsere Redaktion ihn in Kabul traf.

Jetzt hat der Vater vor allem eine Sorge: Dass sein Sohn irgendwann die Hoffnung auf ein Leben in Deutschland verlieren wird – und seinen eigenen Weg geht. Ohne die Eltern. „Ich schäme mich“, sagt Vater Saheed.

Auf Nachfrage zu dem Fall antwortet das Auswärtige Amt nun noch einmal, dass „nunmehr“ alle Unterlagen für den Visumsantrag für Emran vorliegen würden. Man wolle „in den kommenden Tagen“ entscheiden. Wie es entscheidet, schreibt das Außenministerium nicht.