Brüssel. Deutschland erlebt einen Rekord-Zuzug von Flüchtlingen. Auch die Balkanroute gerät in den Blick. Wiederholt sich die Krise von 2015?

Sieben Jahre nach der großen Flüchtlingswelle von 2015 steht Deutschland wieder vor einer ähnlichen Herausforderung: Dresden funktioniert die Messe zur Notunterkunft für Geflüchtete um, Leipzig bereitet Zeltstädte vor, auch in Berlin werden Plätze knapp. Vor allem wegen der Massenflucht aus der kriegsgebeutelten Ukraine stehen viele Städte am Limit, aber ein Ende ist nicht in Sicht: Ein neuer Migrationsreport der OECD sagt voraus, dass die Zahl der Zuzüge nach Deutschland in diesem Jahr über der von 2015 liegen wird – wir stehen vor der größten Zuwanderung seit der Wiedervereinigung.

Da ist es kaum verwunderlich, dass Berichte über eine verstärkte Einreise von Asylbewerbern über die Balkanroute und übers Mittelmeer für Beunruhigung sorgen. Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist in diesem Jahr immerhin um ein Drittel gestiegen, allerdings noch weit entfernt von den Größenordnungen früherer Krisenjahre. Der Druck nimmt zum einen zu, weil sich die Lage in bisherigen Aufnahmeländern wie der Türkei verschlechtert; Präsident Erdogan etwa versucht, vor der schwierigen Präsidentschaftswahl 2023 möglichst viele der nicht mehr so willkommenen Flüchtlinge aus Syrien aus dem Land zu drängen. Eine große Rolle spielt ebenso die großzügige Visapolitik Serbiens, das sich ohne Skrupel zum Schleuser-Land für Migranten in die EU gemacht hat; eine Empfehlung für einen EU-Beitritt Serbiens ist das nicht.

Asylreform Das Versagen der EU-Staaten – noch immer keine Einigung

Innenministerin Faeser hat Recht, wenn sie am Freitag beim Treffen mit ihren EU-Kollegen auf Abhilfe drängt. Es spricht auch nichts dagegen, die Grenzkontrollen zu Österreich aufrechtzuerhalten oder Griechenland aufzufordern, seine Verpflichtungen bei der Asylaufnahme einzuhalten und Migranten nicht einfach durchzuwinken. Es ist ein Versagen der EU-Staaten, dass sie sich noch immer nicht auf das Gesetzespaket zur Neuordnung der europäischen Asylpolitik verständigt haben, zu dem auch ein gemeinsames Vorgehen an den EU-Außengrenzen gehört.

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Christian Kerl, Korrespondent in Brüssel
Christian Kerl, Korrespondent in Brüssel © Privat

Dennoch muss Faeser aufpassen, dass sie ihre politische Energie nicht auf einem Nebenschauplatz verschwendet – oder gar die eine Migrantengruppe gegen die andere ausspielt: In der neuen Krise sind die illegalen Einreisen über die Balkanroute sicher nicht das zentrale Problem. Es gibt keine Anzeichen für eine große Welle und schon gar nicht für Zustände wie 2015.

Bis Ende September hatten in Deutschland 135.000 Menschen einen Asylantrag gestellt – gleichzeitig sind eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine registriert, die sich auf eine breite Solidarität der Deutschen verlassen dürfen und ohne Visum einreisen können, für einen legalen Aufenthalt keinen Asylantrag stellen müssen und auch sofort eine Arbeitserlaubnis erhalten. Wahrscheinlich werden es im Winter noch mehr, weil vielen Menschen in der Ukraine nach den Zerstörungen Bleibe, Heizung und Versorgung fehlt.

Flüchtlinge: Der Bund darf die Kommunen nicht allein lassen bei der Versorgung

Das ist eine andere Lage als 2015/2016. Andererseits sind große Herausforderungen ähnlich: Auch die ukrainischen Flüchtlinge benötigen Unterkünfte – zumal die private Gastfreundschaft an Grenzen des Machbaren kommt -, sie brauchen Schulunterricht oder Arbeit und zum Teil wohl auch eine längerfristige Perspektive, je blasser die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende wird.

Das heißt auch, dass der Bund die Kommunen mit der Unterbringung und Finanzierung nicht allein lassen darf. Der Fluchtwinter 2022/23 wird deutlich anders als der vor sieben Jahren. Aber auch jetzt steht die gesamte Gesellschaft vor einem Kraftakt. Diesmal ist es leider nicht der einzige.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.