Berlin. Behörden schieben Ausländer in gemieteten Maschinen ab. Das ist umstritten und kostet Geld. Es zeigt Deutschlands Abschiebe-Dilemma.

Ende Mai verlässt ein Flieger den Berliner Flughafen. An Bord: drei ausreisepflichtige Ausländer und 17 Polizeibeamte. Kosten des Charterflugs: 64.995 Euro. Zielland: Türkei. Ein paar Wochen zuvor hebt ein Flugzeug in Richtung Bulgarien ab. Diesmal schieben die deutschen Behörden nur eine einzige Person mit diesem Flieger ab. An Bord sind sechs Polizisten. Kosten: knapp 26.000 Euro. Und im Mai 2020 hebt ein Charterflieger mit nur einer Person in Richtung Tadschikistan ab. An Bord: zehn Beamte. Kosten: 134.075 Euro.

Im ersten Halbjahr 2022 schob Deutschland 6198 Menschen in ihre Heimat ab – die allermeisten per Flugzeug. Hinzukommen rund 1600 "Zurückschiebungen" an den deutschen Grenzen. Ziele der Abschiebungen: vor allem nach Nordmazedonien, Albanien, Georgien und Serbien. Viele Personen auch nach Spanien und Italien. Und: 230 Menschen in die Türkei.

Seit Jahren will die Bundesregierung die Zahl der Rückführungen von ausreisepflichtigen Ausländern deutlich erhöhen – vor allem von Straftätern. Seit Jahren hakt dieses Vorhaben. Horst Seehofer (CSU) führte eine Passbeschaffungspflicht für Menschen ein, die aufgrund fehlender Papiere nicht abgeschoben werden können. Und Seehofer wollte die Abschiebehaft stärken.

Auch die neue Ampel-Koalition versprach im vergangenen Herbst eine "Offensive" bei den Rückführungen. Ein Sonderbeauftragter für Migration sollte kommen. Doch auch der: bisher Fehlanzeige.

Migration: 247.290 Personen in Deutschland sind "geduldet"

Ende Juni waren 301.524 Menschen ausreisepflichtig – ihr Antrag auf Schutz in Deutschland wurde abgelehnt. Allerdings: 247.290 Personen sind "geduldet". Sie werden akut nicht abgeschoben, weil ihre Pässe fehlen, sie schwer krank sind oder kein Staat den Menschen aufnehmen will. Bleiben: 54.234 Personen, die zurückgeführt werden sollen. Die Zahl ist wieder leicht gestiegen.

Mühsam und kostspielig versuchen die Behörden in großen Sammelflügen, auf Linienflügen oder kleinen Chartermaschinen Menschen abzuschieben. Doch immer wieder scheitern Flüge in letzter Minute, tauchen Ausländer unter, gibt es Protest von Piloten oder Ärger mit der Bürokratie. Im ersten Halbjahr 2022 scheiterten allein 10.475 Abschiebungen vor Übergabe an die Bundespolizei, schreibt das Bundesinnenministerium.

Leipzig: Polizeibeamte begleiten einen Afghanen auf dem Flughafen Leipzig-Halle in ein Charterflugzeug.
Leipzig: Polizeibeamte begleiten einen Afghanen auf dem Flughafen Leipzig-Halle in ein Charterflugzeug. © dpa | Michael Kappeler

Mit gut 6000 Abschiebungen im ersten Halbjahr 2022 liegt die Zahl ähnlich hoch wie 2021 mit insgesamt knapp 12.000 Personen. Allerdings gab es damals noch deutlich schärfere Beschränkungen im Flugverkehr durch die Corona-Pandemie.

Eine Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linken-Politikerin Clara Bünger zeigt, dass die Behörden gezielt auf "Mini-Charter" setzen, um Abschiebungen durchzusetzen. Mal sind es vier, mal nur zwei oder eine Person, die im Flieger sitzt – und mehrere Beamte, die den Flug in einem eigens gemieteten Flieger sichern müssen. Es ist eine Taktik, die zeigt, welchen massiven Aufwand Deutschland betreibt, um Menschen loszuwerden.

Migration: Elf Mini-Abschiede-Charter im ersten Halbjahr

Im ersten Halbjahr gab es laut Antwort der Bundesregierung elf "Mini-Abschiebe-Charter". Insgesamt wurden damit 35 Personen ausgeflogen, teilweise in die Türkei oder den Libanon, teilweise ins EU-Ausland.

Im Einsatz waren dabei insgesamt 167 Polizeibeamte. Kosten für den Staat: 580.000 Euro, allein für das "Fluggerät". Zudem teilt die Regierung mit, dass für die Sicherheitsbegleitungen bei Rückführungen insgesamt "dem Bund im ersten Halbjahr 2022 Kosten in Höhe von 1.503.000 Euro entstanden" seien.

2019, vor der Pandemie, waren es nach Angaben der Bundesregierung 21 "Mini-Charter", 48 Personen wurden abgeschoben. Flugkosten: mehr als 1,3 Millionen Euro. In nur wenigen Fällen hat demnach die EU-Grenzschutzbehörde Frontex die Kosten erstattet.

Polizisten: Darum gibt es die "Mini-Abschiebeflüge"

2017 setzten die Behörden in nur sieben Fällen die Taktik der "Mini-Charter" ein, 2018 in 18 Fällen – offensichtlich wählt der deutsche Staat immer häufiger diesen teuren und personalintensiven Weg der Abschiebung. Und auch bei Überstellungen von Asylantragstellern in andere EU-Länder im Rahmen des Dublin-Abkommens mieten deutsche Behörden Maschinen an, um maximal bis zu vier Personen auszuweisen.

Der Anteil der großen "Sammelabschiebungen" nimmt dagegen leicht ab. Im ersten Halbjahr 2022 wurden aber immer noch 2.070 Personen in 60 angemieteten Chartermaschinen ausgewiesen. Also etwa 35 Menschen pro Flieger – statt zwei oder drei.

Wer mit Polizisten spricht, hört Gründe für die Strategie der "Mini-Charter": Entweder, so heißt es, gebe es keine Linienflüge in die Zielländer, zumindest in Einzelfällen. Auch die Behörden im Ausland können kleine Flüge mit wenigen Abgeschobenen zur Bedingung für die Aufnahme machen. Oder aber Piloten, die viele Passagiere transportieren, weigern sich, mittendrin einen Menschen gegen seinen Willen abzuschieben.

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Oftmals müssen Polizisten die Ausreisepflichtigen mit Zwang und Gewalt in die Flieger bringen – und das ist in großen "Sammel-Charterflügen" noch aufwendiger zu organisieren. Ein Grund kann auch sein: Die Person ist ein schwerer Straftäter, möglicherweise unter Terror-Verdacht. Auch das rechtfertigt nach Ansicht der Polizei diese "Mini-Charter". Details zu den einzelnen Flügen gibt es nicht. Angaben über die Fluggesellschaften hält die Regierung zurück.

Asylpolitik: "Mini-Charter" für Behörden unauffälliger

Die Behörden wecken zudem weniger Aufsehen, wenn sie "Mini-Charter" fliegen. Denn bei großen Sammel-Abschiebungen am Flughafen in Berlin, Leipzig oder München kommt es oft vor Ort zum Protest von manchmal Hunderten Flüchtlingshelfern, aber auch von einzelnen linken Abgeordneten.

Immer wieder gibt es laut Medienberichten Kundgebungen am Flughafen-Schalter oder sogar Blockaden dagegen, dass Menschen abgeschoben werden. Manchmal erfolgreich. Im Februar verhinderten Demonstranten die Abschiebung eines Kurden in die Türkei vom Flughafen München.

Der Flüchtlingsaktivist Kerem Schamberger berichtet von einem Fall, in dem ein Kurde aus Baden-Württemberg abgeschoben werden sollte. Zunächst konnte eine Abschiebung per Linienflug verhindert werden, diesmal hätten die Ärzte ihre Zusage verweigert. Später, so Schamberger, sei der Mann per "Mini-Charter" in die Türkei geflogen worden, am 7. April. An Bord: insgesamt vier Personen und 13 Beamte. Kosten laut Bundesregierung: knapp 60.000 Euro.

Hintergründe des Falls lassen sich nicht überprüfen. Der Mann war laut Medienberichten straffällig geworden. Allerdings war er in Deutschland geboren, hatte wenig Bezüge in die Türkei. Der Fall zeigt aber: Für die Behörden ist die Taktik der "Mini-Charter" teuer und aufwendig – aber das Risiko des Scheiterns des Fluges mit nur wenigen Abzuschiebenden ist geringer.

Auch Kinder und Jugendliche werden abgeschoben

Dennoch ist diese Praxis umstritten. "Es macht sprachlos, welche Ressourcen Bund und Länder bereit sind einzusetzen, um Menschen außer Landes zu schaffen", sagt die fluchtpolitische Sprecherin der Linken, Clara Bünger. "Auch menschenrechtlich scheint den Abschiebebehörden kaum ein Preis zu hoch."

Regelmäßig werde von Flüchtlingshelfern "über Familientrennungen, Nachtabschiebungen, routinemäßige Fesselungen, rechtswidrige Inhaftierungen" berichtet, so Bünger. Die Zahlen geben einen Hinweis darauf, dass nicht nur erwachsene straffällig gewordene Männer abgeschoben werden: Im ersten Halbjahr 2022 waren unter den gut 6000 Personen 1061 Kinder und Jugendliche und 1289 Frauen.

Abgelehnte Asylbewerber werden zum Transport zum Flughafen abgeholt
Abgelehnte Asylbewerber werden zum Transport zum Flughafen abgeholt © dpa

Und die "Mini-Charter" flogen 2022 häufig in Richtung Türkei – in sieben von elf Fällen. Vor allem Abschiebungen in das autokratische Regime von Präsident Erdogan ist umstritten. Linke und kurdische Politiker werden verfolgt, der Rechtsstaat ist eingeschränkt, die Haftbedingungen oft hart.

Dauerstreit bei der Asylpolitik: Wen soll Deutschland abschieben?

Es ist ein Dauerstreitthema bei der Asylpolitik: Wen soll Deutschland abschieben? Und wie rigide? Linke wollen das Bleiberecht stärken und kritisieren jede einzelne Abschiebung scharf, Konservative pochen auf striktere Maßnahmen, Liberale bewegen sich irgendwo dazwischen.

Für Ausländerbehörden und Polizisten sind Abschiebungen oft mit Stress, Überstunden und Einsatz von Gewalt verbunden. Nicht immer sind die Ausgewiesenen schwere Straftäter, immer wieder kommt es vor, dass Familien getrennt werden. Für viele geht es nach Jahren in Deutschland in eine ungewisse Lage in der Heimat.

"Anstatt Abschiebungen mit immer repressiveren Mitteln durchzusetzen, muss eine umfassende Bleiberechtsregelung her", fordert Linkspolitikerin Bünger. Mit einem neuen Gesetz will die Bundesregierung die "Chancen für gut Integrierte" auf einen Aufenthalt in Deutschland erhöhen. Vor allem die Duldung über viele Jahre soll verhindert werden, damit die Menschen nicht zwischen Sozialamt und Ausländerbehörde feststecken.

Union fehlen "ernsthafte Bemühungen" bei Abschiebungen

Menschen, die keinen Schutztitel erreichen, sollen "Alternativen" haben, sagt auch der SPD-Migrationsexperte Lars Castellucci. "Abschiebungen bedeuten immer einen großen Aufwand, deshalb ist es besser, es gar nicht so weit kommen zu lassen." Wo sie notwendig seien, müssten sie "aber auch durchgesetzt" werden, so Castellucci.

Für Straftäter seien gesetzliche Verschärfungen "in Arbeit". Das bestätigt auch das Bundesinnenministerium. Auf Nachfrage heißt es mit Blick auf Ausweisungen von Straftätern und extremistischen "Gefährdern" sowie der Anordnung von Abschiebehaft "weiteren Rechtsänderungsbedarf".

Für die Union sind diese Ansagen zu wenig. "Ernsthafte Bemühungen", die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen, seien nicht zu erkennen, sagt der innenpolitische Sprecher von CDU und CSU, Alexander Throm. Der CDU-Politiker verweist auf den "erhöhten Migrationsdruck". Im Vergleich zu den Pandemie-Jahren stiegen die Asylanträge in Deutschland im ersten Halbjahr an, allerdings nur leicht. Mit knapp 100.000 Anträgen liegen die Asylzahlen weit unter den Rekordjahren 2015 und 2016.

Die Union will mehr Plätze in Abschiebehaftanstalten wie hier in Glückstadt.
Die Union will mehr Plätze in Abschiebehaftanstalten wie hier in Glückstadt. © dpa

Auch bei der Union ist man bei "Mini-Chartern" skeptisch

Throm fordert, dass die Ausländerbehörden weniger Duldungen austeilen. Denn es sind die Behörden der Bundesländer, die entscheiden, wer abgeschoben werden soll. Throm will statt Duldungen mehr Platz in Abschiebehaftanstalten. Auch die Dauer, die Menschen am Flughafen in ein Ausreise-Gewahrsam genommen werden könnten, "muss von zehn auf mindestens 20 Tage erhöht werden", so Throm.

Die Union schlägt andere Töne an als Grüne, SPD und Linke in der Asylpolitik. Nur bei den "Mini-Chartern" ist auch Throm skeptisch. "Diese Abschiebe-Flüge light sind teuer und aufwendig." Sie würden "das ganze Dilemma" der Behörden zeigen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.