Berlin. Cem Özdemirs Kandidatur um den Bundestagsfraktionsvorsitz der Grünen ist spannend. Aber sie könnte auch Unruhe in die Partei bringen.

Die Grünen haben ihre eigene Castingshow. „Ich bin ein Star – lasst mich wieder rein.“ Cem Özdemir strebt wieder VIP-Status an: den Vorsitz der Fraktion.

Ganz abgesehen davon, dass Wahlen – Personalalternativen – nicht der Störfall, sondern der Idealfall der Demokratie sind, ist sein Ämterehrgeiz nicht verwerflich. Leute, die unverhohlen nach Macht streben, sind weniger verstörend als die Heuchler, die wahlweise dem Land oder der Partei „dienen“ wollen, das oder die – so die Floskel – nach ihnen „ruft“. Machtkämpfe sind für das Berliner Milieu interessant. Sie sind spannend und haben einen hohen Unterhaltungsfaktor. Die Berliner Medien müssten im Chor anstimmen: „Go, Cem, go.“

Die Mehrheit der Bürger wird sich freilich andere Fragen stellen: Was will er anders machen als die bisherige Führungsspitze? Und wer ist eigentlich die Kandidatin an seiner Seite, Kirsten wie?

Neben der Umwelt ist auch die Geschlossenheit eine Stärke der Grünen

Urplötzlich sind viele Parteien ergrünt. Das Original erlebt seit Monaten einen Höhenflug, wiewohl die Grünen nach der jüngsten Umfrage gerade in der dritten Woche in Folge (auf hohem Niveau) schwächeln. Ihre Stärke verdanken sie ihrem Identitätsthema – Umwelt – und ihrer Geschlossenheit.

Und nun kommt einer, der Ehrgeiz, Eloquenz, Medienaffinität und politisches Geschick verspricht, aber mit dem sich keine Richtungsentscheidung verbindet. Auf seine unbeholfene Weise ist der bisherige Amtsinhaber Toni Hofreiter authentischer als der Herausforderer. Den Greta-Thunberg-Award für Flugscham würde er eher als Özdemir gewinnen.

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Es ist kein Wunder, dass es den Grünen am Wochenende die Sprache verschlagen hat. Es dauerte lange, bevor sich die ersten zur neuen Kandidatur zu Wort meldeten. Denn: So attraktiv Özdemirs Angebot ist, so ungelegen kämen Unruhe und Rangkämpfe. Erstens will die große Koalition am 20. September weitreichende Klimabeschlüsse fassen – ein Machtkampf würde nur vom Wesentlichen ablenken. Zweitens steht im Oktober eine Wahl in Thüringen an, ausgerechnet im Heimatland der Politikerin, der Özdemir im Realo-Lager Konkurrenz macht: Katrin Göring-Eckardt.

Özdemir beflügelt die politische Fantasie, keine Frage, aber eine Kampfabstimmung kann die Partei um ihr Momentum bringen. Das ist das Risiko für die Grünen. Wobei: Wenn es dem Esel zu gut geht, begibt er sich aufs Glatteis.

Özdemir würde Hype um Baerbock und Habeck stören

Kirsten Kappert-Gonther und Cem Özdemir wollen die Grünen-Fraktion im Bundestag anführen.
Kirsten Kappert-Gonther und Cem Özdemir wollen die Grünen-Fraktion im Bundestag anführen. © dpa | Michael Kappeler

Nachgerade rührend ist das Versprechen, Özdemir und Kirsten Kappert-Gonther würden einen stimmigeren Doppelauftritt hinlegen als Göring-Eckardt und Hofreiter. In Wahrheit kann man sich Augenhöhe bei dem politisch ungleichen Duo nur schwerlich vorstellen: Özdemir ist Kappert-Gonther auf vielen Feldern weit überlegen, was Hausmacht, Profil, Popularität, Erfahrung, Rhetorik, politische Raffinesse betrifft. Die letzte Frau, die mit Özdemir ein Tandem gebildet hat, Simone Peter damals an der Spitze der Partei, schrieb ihm ins Stammbuch: „Das Amt der Bundesvorsitzenden beinhaltet, Kompromisslinien zu finden und die Partei im Team zu führen, nicht als Ich-AG.“ Hat Özdemir sich das zu Herzen genommen?

Vermutlich wird es die Fraktion zerreißen. Einerseits täte Özdemir ihr gut; er würde ihre Schlag- und Strahlkraft erhöhen. Respekt nötigt einem schon die Staubsauervertreter-Hartnäckigkeit ab, mit der er nach jedem Rückschlag wieder anklopft. Indes ist man mit Göring-Eckardt und Hofreiter nicht schlecht gefahren, die freundlicherweise den Hype um die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck nicht gestört haben.

Zwischen Fraktion und Partei ist geklärt, wer Koch, wer Kellner ist. Özdemir würde daran rühren. Er ist eine interessante Erscheinung, aber der dritte Mann der Grünen. Das Casting kommt zur Unzeit.