Berlin. Cem Özdemir will mit Kirsten Kappert-Gonther die Bundestagsfraktion führen und die bisherige Spitze ablösen. Was heißt das für die Grünen?

Er war nie weg, sondern bloß nicht in der ersten Reihe. Dorthin strebt Cem Özdemir zurück. Seit dem Wochenende ist klar, dass der Grünen-Abgeordnete und seine Bremer Kollegin Kirsten Kappert-Gonther bei der Wahl der Fraktionsführung am 24. September gegen die Doppelspitze Katrin Göring-Eckardt und Toni Hofreiter antreten wollen.

Die Herausforderer sind überzeugt, „dass ein fairer Wettbewerb der Fraktion guttut – nach außen wie nach innen“, schreiben Özdemir und Kappert-Gonther. Sie sind fast gleich alt: Sie wird im November 53, er ist ein Jahr und einen Monat älter. Sie ist seit 2017 im Bundestag und Grünen-Sprecherin für Drogenpolitik; außerhalb der Partei und von Bremen ist sie eher ein unbeschriebenes Blatt, das sich vielleicht zum Löwen, vielleicht aber auch zum Papiertiger falten lässt.

Er hingegen war schon dabei, als das Parlament noch in Bonn tagte, und potenziell war er schon vieles in der Politik. Ende 2017 traute man ihm das Außenministerium zu – selbstredend er sich selbst auch –, bis ihm der Traum „verlindnert“ wurde. Als FDP-Chef Christian Lindner eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen verhinderte, stoppte er jäh und unversehens Özdemirs Karriere.

Özdemir kam nach Rückschlägen immer wieder zurück

Kirsten Kappert-Gonther und Cem Özdemir bewerben sich gemeinsam um den Fraktionsvorstand der Grünen im Bundestag.
Kirsten Kappert-Gonther und Cem Özdemir bewerben sich gemeinsam um den Fraktionsvorstand der Grünen im Bundestag. © dpa | Michael Kappeler

Wenn die Kunst darin besteht, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird, kann man dem „anatolischen Schwaben“ (Özdemir über Özdemir) eine gewisse Klasse nicht absprechen. Anfang der 2000er-Jahre trat er zurück, weil er dienstlich erflogene Bonusmeilen privat genutzt hatte. Er kam zurück. 2008 ließen ihn die Grünen bei Kampfabstimmungen um einen sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl durchfallen. Er schaffte sein Comeback als Parteichef. Er hat einen unbändigen Drang nach oben.

Nach dem Scheitern einer Jamaika-Koalition Ende 2017 verzichtete er auf eine Bewerbung für den Fraktionssitz. „Ich habe erkennbar keine Mehrheit. Das muss ich akzeptieren.“ Eine Erkenntnis mit einer geringen Halbwertzeit: Kaum eineinhalb Jahre später gilt sie nicht mehr. Er will es wissen. Wieder einmal.

Auch wenn Göring-Eckardt und Hofreiter 2018 mit bescheidenen Ergebnissen gewählt wurden, müssen ihre Herausforderer kein leichtes Spiel haben. Üblicherweise sind beide Flügel – Linke und Realpolitiker – an der Spitze der Fraktion vertreten, und immer muss eine Frau dabei sein. Das bedeutet: Özdemir kommt nur mit Kappert-Gonther zum Zuge. Was den Geschlechterproporz betrifft, kandidiert er gegen Hofreiter, politisch macht er der Reala Göring-Eckardt Konkurrenz. Bei Kappert-Gonther verhält es sich genau umgekehrt.

Wenn Özdemir es wieder einmal allen zeigt, würde sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann nachgerade bestätigt fühlen. „Wir werden ihn noch lange brauchen“, hatte er Anfang 2018 gesagt, als Özdemir in den Verkehrsausschuss ging.

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Hofreiter und Göring-Eckardt werden nicht kampflos abtreten

Drei Aspekte fallen bei der Kandidatur auf. Zunächst: das Timing. Die Kampfabstimmung findet wenige Wochen vor der Thüringenwahl Ende Oktober statt. Wähler honorieren selten Machtkämpfe. Bei Göring-Eckardt kommt hinzu, dass sie ein Aushängeschild der Thüringer Grünen ist. Die Lokalmatadorin zu beschädigen, könnte sich rächen. Sodann: die Stilfrage. Unter Zusammenarbeit verstehen Kappert-Gonther und Özdemir keine „Zuarbeit aus fein parzellierten Kleingärten“, sondern „ein gemeinsames Einstehen für miteinander entwickelte Projekte“. Zwischen den Zeilen hört man die Stilkritik. Das haben die Gescholtenen auch verstanden. „Katrin und ich haben die Fraktion immer mit einem Blick für den Zusammenhalt und den Ausgleich geführt“, so Hofreiter. Kampflos werden sie das Feld nicht räumen.

Ein neuer Dualismus wäre bei den zwei Herausforderern unwahrscheinlich, weil Özdemir ungleich erfahrener, bekannter und eloquenter ist als die Frau aus Bremen. Und noch eine Koch-und-Kellner-Frage scheint schließlich geklärt zu sein: Beide stellen in ihrem Bewerbungsschreiben klar, dass sie für den nächsten Wahlkampf im Bund keine Spitzenkandidatur anstreben. Die Parteichefs Anna­lena Baerbock und Robert Habeck gelten als gesetzt.

Özdemir bekam für AfD-Schelte viel Zuspruch

Dass Özdemir nach dem Scheitern von Jamaika Wunden geleckt hat, darf man nur vermuten. Eindeutiger lässt sich bestimmen, wann damit Schluss war und er wieder ins Rampenlicht drängte, nämlich am 22. Februar 2018, als er im Bundestag mit der AfD abrechnete. „Sie wollen bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht“, sagte der Abgeordnete und fragte: „Wie kann jemand, der Deutschland, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet, wie sie es tun, darüber bestimmen, wer Deutscher ist?“

Auf Youtube wurde die Rede mehr als 220.000-mal angeklickt. Es folgten Rhetorikpreise und zuletzt der Ignatz-Bubis-Preis der Stadt Frankfurt: „Cem Özdemir hat ein außergewöhnliches Engagement und ein stets zukunftsorientiertes Handeln zum Aufbau einer friedlichen Welt mit Offenheit und Toleranz vorgelebt.“ Das ist ein Empfehlungsschreiben.

Die Grünen befinden sich weiterhin auf einem Höhenflug und erzielen immer wieder beeindruckende Werte – in Umfragen und Wahlen. Im Osten zeigte sich jüngst, dass die Grünen etabliert sind, sie fuhren in Sachsen und Brandenburg ihre besten Ergebnisse der Parteigeschichte ein. Der Grünen-Chef Habeck formulierte ganz eindeutig im Interview mit unserer Reaktion: Wir wollen Verantwortung. (mit ses)