Berlin. Nach einem Jahr an der SPD-Spitze zeigt sich Andrea Nahles kämpferisch. Die 48-Jährige bleibt standhaft - trotz jeder Menge Kritik.

Im Bundestag reden sie über die Bafög-Reform. Andrea Nahles schaut auf die Uhr. Sie muss los. Vor dem Reichstagsgebäude wartet ein großer Audi auf sie. Der Wagen bringt sie zum Flughafen Tegel.

Von dort geht es für die SPD-Chefin raus aus der Berliner Blase, rein in die Provinz, in ihr anderes Leben. Zu ihrer Tochter, für ein paar Stunden immerhin. Nach Weiler, ein 500-Seelen-Dorf in der Vulkaneifel. Eine Kirche, eine Schule, eine Kneipe, kein Laden.

Nahles sinkt auf der Rückbank des Wagens ins Polster. An diesem Nachmittag muss sie pünktlich auf dem Fußballplatz sein. Ella hat sich gewünscht, dass Mama dabei ist. Die Achtjährige spielt in einer gemischten Mädchen-Jungen-Mannschaft. „Sie ist richtig gut“, sagt Nahles stolz.

„Man läuft hinter sich selbst her.“

Sich Zeit freizuschaufeln, um dem eigenen Kind beim Bolzen zuzuschauen, das ist für die Partei- und Fraktionsvorsitzende einer ums Überleben kämpfenden Volkspartei ein Riesending. Die Zerrissenheit zwischen dem Knochenjob und ihrer Mutterrolle setzt Nahles zu. Eine „irre Situation“ sei das, in der man sich als voll berufstätige Frau befinde. „Und ich würd’ sagen, ich bin ja noch mehr als vollbeschäftigt.“ Sie habe ständig das Gefühl, „man läuft hinter sich selbst her“.

Im Januar feierte Ella ihren achten Geburtstag. Nahles kam am Vorabend erst um 22 Uhr nach Weiler. Dort lebt sie seit der Trennung vom Vater des Kindes allein mit ihrer Tochter in einem restaurierten Bruchsteinhaus, in dem schon ihre Großeltern wohnten.

Erst Bundestag, dann Muffins backen

Am nächsten Morgen mussten 24 Muffins für die Schule fertig sein. Ihre Mutter Gertrud, die sich unter der Woche um Ella kümmert, weigerte sich, diesen „neumodischen Kram“ zu backen. Nahles musste selbst ran. „Ich nehme das dann genauso wichtig wie ’ne Rede im Bundestag. Die Muffins sind für mich nichts anderes als eine Erwiderung auf eine Regierungserklärung von Frau Merkel“, erzählte sie in ihrem Podcast. „Wenn ich diese Abstufung zulassen würde, hätte ich das Gefühl, dass ich mich entscheiden müsste. Und ich will mich nicht entscheiden.“ Sie habe Ella nicht bekommen, um das Kind wegzuorganisieren.

Andrea Nahles- Ihre Karriere in Bildern

Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben.
Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben. © dpa | Martin Gerten
Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos.
Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Andreas Altwein
Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996.
Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996. © REUTERS /
Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand.
Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand. © REUTERS /
Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne.
Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne. © Getty Images | Sean Gallup
Die praktizierende Katholikin ist Mutter einer Tochter.
Die praktizierende Katholikin ist Mutter einer Tochter. © Meike Boeschemeyer
Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt.
Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt. © Getty Images | Sean Gallup
Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt.
Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt. © REUTERS | REUTERS / THOMAS PETER
Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark.
Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark. © Getty Images | Carsten Koall
Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion.
Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion. © dpa | Bernd von Jutrczenka
Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei.
Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei. © dpa | Kay Nietfeld
Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende.
Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende. © dpa | Bernd von Jutrczenka
Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will.
Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will. © Reto Klar | Reto Klar
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Nahles hat bis auf ein paar Jahre bei der IG Metall nie etwas anderes als Politik gemacht. Sie ist erst 48. Am 22. April 2018 erfüllte sich für sie in Wiesbaden ein Traum. SPD-Vorsitzende. Die erste Frau an der Spitze der ältesten deutschen Partei. Das schönste Amt neben Papst, wie Franz Müntefering einmal sagte. Aber auch eines der härtesten in der Politik. Ein Schleudersitz.

In der Maaßen-Affäre verzettelt

Einen Vorgeschmack gaben ihr die Parteitagsdelegierten mit auf den Weg. Nur 66 Prozent zum Start. Eine schwere Hypothek. In Angela Merkels 18 Jahren an der CDU-Spitze haben die Sozialdemokraten neun Vorsitzende verschlissen. Wann ist Nahles dran? Nach den Debakeln bei Bayern- und Hessenwahl werde sie ihren Job los sein, sagten ihre Gegner in der Partei im Spätherbst. Nahles blieb.

Verdammt nah am Abgrund stand sie in der Maaßen-Affäre. Der später gefeuerte Verfassungsschutzpräsident sollte zunächst befördert werden. Nahles’ Instinkt setzte aus. Sie schätzte die Stimmung in Partei und Bevölkerung komplett falsch ein – wie Merkel übrigens auch. Sie korrigierte sich. In der SPD dachten und sagten damals viele: Die kann es nicht.

Sie redet, wie sie es aus der Eifel gewohnt ist

Zum Jahresauftakt wurde gestreut, die Abgeordneten aus NRW und Niedersachsen würden bei einer Klausur in Osnabrück putschen. Nahles blieb. Die pragmatische Lösung beim Paragrafen 219a mit dem gelockerten Informationsverbot für Ärzte bei Abtreibungen werde aber auf jeden Fall ihr Sargnagel sein. Nahles blieb. Dann kam Karneval.

Beim politischen Aschermittwoch im thüringischen Suhl stand sie mit dem SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee auf der Bühne. Sehr oft haben Nahles’ Berater ihr den Spruch ans Herz gelegt: „Don’t sing, don’t dance.“ Nicht singen, nicht tanzen. Der Frohnatur ist das schnuppe. Sie redet manchmal eben so, wie sie es aus der Eifel kennt. „Bätschi“, „Fresse“, „Kacke“, „Wurst“. Bei der Karaoke in Suhl trällerte sie „Humba humba humba tätäräää“, „Wollibolli“ und „Mindestlohniii“.

Im „Spiegel“ folgte ein Verriss. Nahles sprenge die Grenzen der Peinlichkeit. Im Dienstwagen darauf angesprochen, verengen sich ihre Augen zu Schlitzen. Knurrendes Schweigen. Den Artikel habe sie nicht gelesen. Aber was hinter der Bezahlschranke lauerte, wird sie erzählt bekommen haben. Sie kennt das alles. Es hört nie auf.

Eine „linke Krawallschachtel“

Als Juso-Chefin landete sie in der Schublade „linke Krawallschachtel“. Später war sie die „Münte-Killerin“. Müntefering schmiss 2005 als Parteichef hin, weil Nahles dessen Vertrauten Kajo Wasserhövel als Generalsekretär verhinderte. Nach 2013 beruhigte sich die Lage. Nahles erarbeitete sich als Arbeitsministerin Respekt.

Seit sie Partei und Fraktion mit einem eingeschworenen Kreis aus Getreuen „stalinistisch“ (O-Ton eines Abgeordneten) führt, leben alte Reflexe auf. Vorgänger Martin Schulz fühlt sich um den Außenministerposten betrogen. Sigmar Gabriel auch. Gerhard Schröder sprach ihr jegliche Wirtschaftskompetenz ab und bewertete ihre flapsige Sprache als „Amateurfehler“.

Ein Jahr GroKo- Darum hat sie zu Unrecht ein schlechtes Image

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    Vor ein paar Monaten gründete Nahles mit Abgeordneten von CDU und FDP im Bundestag den „Parlamentskreis Pferd“. Etliche Genossen zerrissen sich das Maul. Wie kann eine Vorsitzende, die gern reitet, mitten in der SPD-Krise eine Pferderunde aufmachen? Hätte ein SPD-Mann einen Fußball-Fanclub gegründet, hätte es Freibier und Applaus gegeben. Nahles, deren Friesen-Wallach in Weiler in einem Reiterverein versorgt wird, hat lange auf der Sache herumgekaut. „Ich war persönlich wirklich verstört. Richtig verstört.“

    Nahles „reißt die Klappe auf“

    Eine Antwort hat Juli Zeh ihr geliefert. Die Schriftstellerin und Juristin, die auf SPD-Ticket in Brandenburg Verfassungsrichterin geworden ist, hat eine „Gebrauchsanweisung für Pferde“ geschrieben. Erst seit wenigen Jahrzehnten hätten Frauen, die den Breitensport Reiten dominieren, den Männern das archaische Status- und Macho-Symbol entrissen.

    Amazonen, Pferdemädchen, Erotik, vieles schwinge da mit. „Die Frau auf dem Pferd ist nach wie vor ein Problem. Da erstarrt Mann“, erzählte Zeh in einem Gespräch mit Nahles. Die schüchtert viele ein. Ihr Vater war Maurer. Sie ist groß, kräftig, hat eine tiefe Stimme, reißt die Klappe auf, ist autoritär, hat SPD-Männern die Spitzenjobs weggenommen. Und reitet! Noch Fragen?

    Wer sollte die Fraktion besser führen?

    Dass Nahles generell härter beurteilt wird, weil sie eine Frau ist, glaubt Simone Lange nicht. „Olaf Scholz oder Heiko Maas müssen auch viel einstecken.“ Die Flensburger Oberbürgermeisterin trat vor einem Jahr als krasse Außenseiterin gegen Nahles um den SPD-Vorsitz an. Sie verlor, holte aber fast ein Drittel der Stimmen.

    Lange erkennt an, dass Nahles etwas bewegt habe. Mit den Vorschlägen zu Sozialstaat, Grundrente und Pflege sei die SPD wieder näher an die Gewerkschaften gerückt. Aber im Spitzenpersonal sei zu wenig Erneuerung ablesbar. „Andrea Nahles bemüht sich. Aber ihre Doppelrolle bleibt schwierig“, sagt Lange. Jedes Mal, wenn Nahles die SPD mit radikalen Forderungen profilieren wolle, knirsche es in der Koalition und in der Regierung. „Ich war vor einem Jahr dafür und bleibe dabei: Fraktions- und Parteivorsitz sollten getrennt sein.“

    Einzelne in der Fraktion raunen, bei miesen Ergebnissen bei der Europawahl und in Bremen Ende Mai müsse Nahles den Fraktionsposten abgeben. Realistisch scheint das nicht. Selbst wenn die CDU in Bremen gewinnt, könnte die SPD mit Rot-Rot-Grün am Drücker bleiben. Wer auch sollte die Fraktion besser führen? Schulz? Gabriel? Achim Post, der Fraktionsvize aus Ostwestfalen?

    Vor ihr liegt ein Superwahljahr

    Nahles sieht sich gefestigt. Das No-GroKo-Lager, das auf Teufel komm raus die Koalition verlassen wolle, sei mit der inhaltlichen Schärfung geschrumpft: „Vor einem Jahr war die SPD eine tief verunsicherte Partei. Jetzt haben wir eine andere Gemütslage an der Basis. Die Frage, wofür wir eigentlich stehen, ist mit neuem Selbstbewusstsein aufgeladen.“

    Das wird nicht reichen. Nahles muss im Superwahljahr Zählbares liefern. 15 bis 17 Prozent in Umfragen sind eine Demütigung. „Jetzt geht es darum, dass die SPD sich wieder klar und deutlich vor die Grünen auf Platz zwei schiebt. Wir dürfen uns nicht auf Platz drei einrichten. Damit werde ich mich nie zufriedengeben“, sagt sie.

    Andrea Nahles will durchhalten

    Sollte die SPD bei den drei Ost-Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen abstürzen, wird der Druck auf sie extrem werden. Auf einem Parteitag vom 5. bis 7. Dezember in Berlin wird sie – Stand heute – zur Wiederwahl antreten. Entschieden werden soll dann auch über die Fortsetzung der Koalition. Es könnte aber schon früher zum Schwur kommen.

    Hört Angela Merkel zeitig nach der Europawahl auf, wollen viele Sozialdemokraten Annegret Kramp-Karrenbauer im Bundestag nicht zur Kanzlerin mitwählen. Neuwahl mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz? Hat die SPD so viel Mumm? Andrea Nahles will an der Spitze durchziehen. So leicht lässt sich eine erfahrene Reiterin nicht abwerfen. „Ich habe Steherqualitäten.“ (Tim Braune)