Berlin. Die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer versucht, einen Schlussstrich unter die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel zu ziehen.

Es war die erste Prüfung für Annegret Kramp-Karrenbauer als neue CDU-Vorsitzende: Die Aufarbeitung der Flüchtlingskrise innerhalb der CDU. AKK, wie sie parteiintern genannt wird, hatte das „Werkstattgespräch Migration“ intensiv vorbereiten lassen, die Stuhlreihen im Foyer des Konrad-Adenauer-Hauses leuchteten am Montag schwarz-rot-golden.

Interessant war auch der Titel des Gesprächsformats: Keine Konferenz, keine Tagung, nein, ein „Werkstattgespräch“ war es. Der Titel sollte suggerieren, dass die Aufarbeitung der Flüchtlingskrise ein Prozess ist, in dem einiges repariert werden muss, vieles neu entwickelt wird. Eine Werkstatt eben.

Asylverfahren an den Außengrenzen

Kramp-Karrenbauer hatte die Veranstaltung noch vor ihrer Wahl Anfang Dezember als Aufarbeitung der umstrittenen Migrationspolitik Merkels im Jahr 2015 angekündigt. Damals war sie noch CDU-Generalsekretärin. Sie wollte damit verhindern, dass der Streit über den Migrationskurs ihrer Vorgängerin zu einem für die Union ähnlich belastenden Trauma wird wie die Hartz-IV-Reformen von Gerhard Schröder für die SPD.

Am Sonntag gab es zunächst eine Diskussion unter Wissenschaftlern, die tatsächlich in einem Stuhlkreis saßen. Am Montag dann sprachen 100 Politiker und Experten in nicht öffentlichen Runden miteinander, es gab Handlungsempfehlungen für das Parlament und die Bundesregierung. So wurde eine Auf­stockung der EU-Grenzschutztruppe Frontex auf 10.000 Beamte bis 2020 verlangt.

Annegret Kramp-Karrenbauer schließt Grenzschließungen nicht aus

An den europäischen Außengrenzen sollten Asylverfahren durchgeführt werden, sagte der Innenpolitiker Armin Schuster, der die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe vorstellte. Dazu gehörten Zurückweisungen abgelehnter Asylbewerber schon an der Grenze. Zudem wolle man die Befugnisse der Bundespolizei ausweiten, sodass die Beamten auch für den Kampf gegen unerlaubten Aufenthalt in Deutschland zuständig seien.

In einem Interview mit den „Tagesthemen“ im Ersten machte Kramp-Karrenbauer ihren Standpunkt noch einmal deutlich. Dabei schloss die neue CDU-Chefin auch Grenzschließungen nicht aus. Auf die Frage, ob es diese bei einer ähnlichen Situation wie 2015 geben könne, sagte Kramp-Karrenbauer: „Wir haben gesagt, als Ultima Ratio wäre das durchaus auch denkbar.“

Lob und Tadel für Kramp-Karrenbauers Vorstoß

Annegret Kramp-Karrenbauer mit Joachim Herrmann (rechts) und Thomas Strobl.
Annegret Kramp-Karrenbauer mit Joachim Herrmann (rechts) und Thomas Strobl. © REUTERS | ANNEGRET HILSE

Vor allem die CSU begrüßte diese Aussage. Dass Kramp-Karrenbauer auch das Thema Grenzschließungen anspreche, nannte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am Dienstag in Berlin „mutig“. Damit gehe sie über die Diskussionen des vergangenen Jahres hinaus. Zudem hob er hervor, dass die CDU im Papier zu ihrem „Werkstattgespräch“ zur Migration auch von möglichen Zurückweisungen an der Grenze spricht.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) bezeichnete die Frage zu möglichen Grenzschließungen in Deutschland als hypothetisch. Er sei „sehr zuversichtlich, dass sich diese Frage am Ende des Tages nicht stellen wird“.

Die FDP-Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg warf der CDU dagegen „unverbindliche Ankündigungen“ vor. Sie forderte einen nationalen Migrationsgipfel, um über drängende Fragen wie zentrale Ausländerbehörden in den Ländern, mehr Bundeszuständigkeiten bei der Rückführung Ausreisepflichtiger und Investitionen in Integration bei guter Bleibeperspektive zu sprechen.

Die Fraktionsvorsitzende der AfD im Deutschen Bundestag, Alice Weidel, bezeichnete das Werkstattgespräch als „Alibi-Verantstaltung“. Die CDU weigere sich, ihre „katastrophale falsche Weichenstellung“ klar zu benennen: „Sie will keinen Politikwechsel, sondern einen Schlussstrich unter die Debatte über ihr Versagen“, sagte Weidel.

Selbst die Werteunion zollt AKK Respekt für das Format

AKK selbst betonte am Ende der Veranstaltung, man müsse alles daran setzen, dass sich das Geschehen im Jahr 2015 nicht wiederhole. Man müsse dringend für Deutschland und Europa das Migrationsmonitoring verbessern, der Staat dürfe nie wieder derartig von Flüchtlingsbewegungen überrascht werden.

Annegret Kramp-Karrenbauer (l-r), CDU-Bundesvorsitzende und Joachim Herrmann (CSU), Bayerischer Innenminister.
Annegret Kramp-Karrenbauer (l-r), CDU-Bundesvorsitzende und Joachim Herrmann (CSU), Bayerischer Innenminister. © dpa | Kay Nietfeld

Die CDU-Chefin stellte aber auch klar: „Das individuelle Asylrecht ist mit mir nicht verhandelbar.“ Aber es müsse für die Menschen angewandt werden, die ein Recht darauf haben. Wer es ausnutze, dem müsse man mit Konsequenz begegnen. „Wir sind kein Rechtsstaat, dem man auf der Nase herumtanzen kann. Das ist auch ein wichtiges Signal nach innen“, machte AKK deutlich.

Die ehemalige CDU-Vorsitzende und Kanzlerin Angela Merkel war bei dem „Werkstattgespräch“ nicht dabei. Man wollte unbedingt eine Art „Gerichtsverhandlung“ vermeiden, in der Merkel zur Angeklagten geworden wäre oder sich selbst vehement hätte verteidigen müssen. Ihre Position sei ja bekannt, hatte Merkel verlauten lassen. Sie hat auch schlicht keine Lust mehr, sich immer wieder zu rechtfertigen, zumal sie den Blick zurück für verlorene Zeit hält.

AKK will Partei versöhnen

Kramp-Karrenbauer hatte zur Eröffnung gesagt, es sei immer Aufgabe der CDU gewesen, funktionierende Lösungen auf nationaler Ebene zu finden und den Markenkern Sicherheit zu garantieren. Dadurch dürfe aber ein zweiter „Schutzmantel, den wir brauchen, nämlich ein starkes und funktionierendes Europa“, nicht aufgegeben oder gefährdet werden. Dieser Spagat müsse auch in Zukunft gewährleistet werden.

„Alles, was wir tun, auch in einem nationalen Kontext, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Diskussionen auch innerhalb anderer europäischer Staaten.“ Wenn man wollte, dann konnte man diese Äußerungen der neuen Vorsitzenden durchaus auch als Signal an Merkel verstehen, die im tiefen Zerwürfnis mit dem damaligen CSU-Chef Horst Seehofer im Sommer 2018 davor gewarnt hatte, die europäische Einheit durch nationale Alleingänge zu gefährden.

Doch AKKs Wunsch war es, die Partei zu versöhnen. Der hessische Ministerpräsident und CDU-Vize Volker Bouffier lobte das Format: „Der Blick auf die Praxis hilft immer.“ Wenn man Landesverantwortung habe, sehe „vieles sehr viel weniger ideologisch aus, sondern ganz einfach praktisch“.

Kritiker wollen „Asylwende“ einleiten

„Es gab Verletzungen in der CDU“, sagte auch Innenexperte Schuster, deswegen tue diese Aufarbeitung sehr gut. Es sei auch nicht darum gegangen „über Personen zu urteilen“. Sondern nach vorne zu schauen, denn „die nächste Krise wird kommen“.

Selbst die Werteunion, ein Kreis deutlich konservativer CDU-Politiker, die massiv für Friedrich Merz als CDU-Vorsitzenden geworben hatten, begrüßte das „Werkstattgespräch“ im Grundsatz: „AKK hat sich – anders als ihre Vorgängerin – der Brisanz des Themas gestellt und eine dosierte Diskussion zugelassen. Mit diesem wichtigen ersten Schritt eröffnet sich die CDU die Chance, Vertrauen zurückzugewinnen“, sagte der Chef der Werteunion, Alexander Mitsch, dieser Redaktion.

Es wäre allerdings „naiv zu glauben, dass die Umstände und Folgen der unkontrollierten Masseneinwanderung seit 2015 mit dem ‚Werkstattgespräch‘ nun abschließend aufgearbeitet“ seien. Vielmehr gelte es, eine „Asylwende“ einzuleiten. Mitsch gilt als einer der größten Kritiker der Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel. Die Werteunion forderte „die Einhaltung und pragmatische Durchsetzung geltenden Rechts, etwa bei illegalen Einreisen und Abschiebungen von Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung“.

Auch müssten Anreize reduziert werden, in das Sozialsystem einzuwandern. Ganz aktuell, so Mitsch, gehe es um das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das im bisherigen Entwurf „eher eine weitere Hintertür für unqualifizierte Einwanderung“ darstelle. Hier dürfe die Union der SPD nicht nachgeben, sondern müsse den „Spurwechsel“ verhindern.

Seehofer kritisiert Amtsvorgänger de Maizière

Aus dem Publikum meldete sich der Chef des Bundesamts für Migration (Bamf), Hans-Eckhard Sommer, zu Wort und regte an, die rechtlich starke Stellung von Bürgerkriegsflüchtlingen in Europa zu überdenken. Ein Polizist beklagte sich über die gängige Abschiebepraxis, die oft zum Untertauchen der Betroffenen führe. Überhaupt sahen die meisten Teilnehmer bei den Abschiebungen den größten Bedarf an Verbesserungen, etwa durch die Abschiebungen direkt aus sogenannten Anker-Zentren.

Dass die Flüchtlingskrise die Gemüter in der Union immer noch bewegt und Verletzungen durchaus noch vorhanden sind, bewiesen parallel zum „Werkstattgespräch“ Bundesinnenminister Horst Seehofer und sein Amtsvorgänger Thomas de Maizière (CDU). In de Maizières am Montag erschienenem Buch „Regieren“ kritisierte der CDU-Politiker den von Seehofer 2015 formulierten Vorwurf einer „Herrschaft des Unrechts“ im Zusammenhang mit dem deutschen Grenzregime. Dieser sei „ehrabschneidend“.

Der CDU-Politiker schrieb weiter: „Besonders die kommunalpolitisch Verantwortlichen vor Ort in Bayern lehnten eine Registrierung im Grenzgebiet ab und bestanden darauf, dass die Flüchtlinge ohne Registrierung, die in jedem Einzelfall 30 bis 45 Minuten dauert, sofort weiterverteilt werden.“

Seehofer konterte: Er kenne das Buch zwar nicht im Original, aber die Darstellung von de Maizière, so wie sie in Medien verbreitet werde, sei „objektiv falsch“. Die Union und das Jahr 2015 – ein einzelnes „Werkstattgespräch“ wird nicht ausreichen.