Erfurt. Viele Ostdeutsche fühlten sich als Bürger zweiter Klasse, sagt Ramelow. Und die AfD verstehe es, das Gefühl der Ausgrenzung zu nutzen.

Ein heißer Spätsommertag. Der Weg zum Landtagsbüro des Ministerpräsidenten führt durch sein Vorzimmer. Zwei Mitarbeiterinnen verfolgen auf einem Bildschirm die Debatte im Plenum. Es spricht AfD-Fraktionschef Björn Höcke zu den Abgeordneten, geißelt mögliche Subventionen für ein Konzert linker Punkbands. Der Ton ist scharf und unversöhnlich. Die AfD ist derzeit in Umfragen stärkste Kraft im Osten. In 28 Jahren deutsche Einheit hat sich viel verändert im Osten – auch politisch.

Wissen Sie noch, was Sie am 3. Oktober 1990 gemacht haben?

Bodo Ramelow: Ich war mit Freunden auf einem Boot in der türkischen Riviera. Und wir haben uns im Radio angehört, was in Deutschland los war.

Was bedeutet Ihnen dieser Tag?

Ramelow: Es ist der amtliche Feiertag und an diesem Tag habe ich seit 27 Jahren immer von Berufs wegen sehr viel zu tun. Ehrlicher Weise ist für mich die Grenzöffnung, der 9. November 1989, der emotionalere Tag. Als ich hörte, dass die Grenze offen ist, habe ich geheult.

Hatten Sie Familie in der DDR?

Ramelow: Ja, die hatte ich kurz vor dem Mauerfall noch besucht. Im August 89. Ich kann mich noch gut an die Szene beim Abschied erinnern, damals fragten die Kinder unserer Verwandten: „Warum dürft ihr uns besuchen und wir euch nicht?“ Ich stammelte verlegen ein wenig herum, strich ihnen über den Kopf und sagte: „Bis ihr groß seid, wird das auch vorbei sein.“ Aber da hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich schon das nächste Weihnachten in der Altmark in einer kleinen Feldsteinkirche feiern würde.

Wie zufrieden sind Sie 28 Jahre danach mit dem Stand der Einheit?

Ramelow: Ökonomisch gesehen hat Deutschland einen unglaublichen Kraftakt geleistet. Kein Staat auf der Welt hat meines Wissens bisher so etwas geschafft. Und wenn ich mir speziell Thüringen anschaue, wir sind mit dem größten wirtschaftlichen Bruch, der stärksten Entindustrialisierung aller fünf Ost-Bundesländer gestartet. Als Gewerkschaftler glaubte ich damals: Davon erholen uns nicht mehr! Aber da habe ich mich sehr getäuscht – und bin froh darüber.

Der ökonomische Kraftakt ist gelungen, was ist schief gegangen?

Ramelow: Der gesamtdeutsche Umgang miteinander ist bis heute oftmals verheerend. Auf der emotionalen Seite erleben die Menschen im Osten nahezu täglich Verletzungen. Ein Beispiel: Der neue BDI-Hauptgeschäftsführer, Joachim Lang, sagt, dass Thüringen sich wirtschaftlich topp entwickelt habe, aber die Produktivität der Arbeitnehmer stimme nicht.

Da kann ich nur sagen, das ist bitter. Und ist in der Sache einfach nur falsch. Denn die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung wie auch die Steuerabrechnung finden immer nur am Ort der Konzernzentrale statt. Der liegt in aller Regel im Westen. So sind wir zwar exzellente Zulieferer, erhalten aber nicht die gerechten Anteile an den Unternehmenssteuern und werden zu allem Überfluss genau dafür auch noch gescholten.

Wie reagieren die Bürger im Osten auf solche Aussagen?

Ramelow: Menschen, die hier leben, machen immer wieder die Erfahrung, dass sie sich rechtfertigen müssen. Für alles. Sie sind es leid andauernd zu betonen: Wir sind im Osten doch keine Bittsteller, die immer nur mehr Geld wollen, so dass es uns besser geht. Wir leisten doch genau so viel für die deutsche Einheit wie die Menschen im Westen. Die Menschen hier arbeiten länger, erhalten weniger Lohn und müssen sich dann noch anhören, sie seien „undankbar“. Es geht aber nicht um Dankbarkeit, sondern um Respekt.

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    Es ist viel Geld geflossen, hat man die Menschen dabei vergessen?

    Ramelow: Ich will gar nicht auf andere zeigen. Denn auch meine Gewerkschaft hat teilweise westdeutsche Standards angelegt, aber nicht zugunsten der Ostdeutschen, sondern zugunsten der Westdeutschen. Die Forderung nach 100 Prozent Westlohn für alle führte im Osten zwangsläufig zu Entlassungen, eine gesamtdeutsche Solidarität hat man damals vergeblich gesucht.

    Der Ostbeauftragte der Bundesregierung hat in seinem aktuellen Bericht festgestellt, dass sich viele Ostdeutsche als „Menschen zweiter Klasse“ fühlen. Können Sie das bestätigen?

    Ramelow: Leider ja, viele Ostdeutsche fühlen sich als Menschen zweiter Klasse. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Mir schrieb ein junger Mann aus Thüringen, dass er jetzt in Gießen studiere. Und immer wenn ihn jemand fragt, woher er kommt und er antwortet, er komme aus Gera, wird er mitleidig angeguckt. Obwohl er in Gießen ökonomisch genauso dasteht wie die anderen Studenten. Das macht doch etwas mit den Menschen.

    Glauben Sie wirklich, dass es heute noch einen Unterschied macht, ob einer aus dem Westen oder Osten kommt?

    Ramelow: Na, klar. Das Wort „Dunkeldeutschland“ fällt immer noch häufig. Dass es rechte Aufmärsche nicht nur in Chemnitz und Köthen gab, sondern auch in Dortmund, Kandel und Bad Hersfeld, das interessiert kaum jemand, gehört aber auch zur Wahrheit.

    Jetzt hat die Bundesanwaltschaft eine mutmaßliche Terrorzelle wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung namens „Revolution Chemnitz“ festnehmen lassen. Ist vor dem Hintergrund die wochenlange Diskussion über Hetzjagden eine Scheindiskussion gewesen?

    Ramelow: Ich kann und will zum jetzigen Zeitpunkt den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft nicht vorgreifen. Aber die Festnahmen geben uns einen deutlichen Hinweis darauf, dass es sich um eine ernste Bedrohung handelt und Verharmlosungen oder Relativierungen rechter Gewalt gänzlich fehl am Platze sind.

    Thüringens Ministerpraesident Bodo Ramelow (Die Linke; Mitte) im Gespräch mit Diana Zinkler und Jörg Quoos.
    Thüringens Ministerpraesident Bodo Ramelow (Die Linke; Mitte) im Gespräch mit Diana Zinkler und Jörg Quoos. © TA | Sascha Fromm

    In Umfragen ist die AfD im Osten mit etwa 27 Prozent mittlerweile die stärkste Kraft. Was ist da schief gegangen?

    Ramelow: Die AfD übernimmt vielfach die Funktion, die zunächst die PDS und später die Linke im Osten hatten. Wir in der PDS waren gegen die da oben. Und je mehr wir von den anderen Parteien ausgegrenzt wurden, desto mehr Zulauf hatten wir. Denn ausgegrenzt zu sein, ist ein Gefühl, dass viele Ostdeutsche kennen.

    Aber Ausgrenzung kann ja nicht der alleinige Erfolgsfaktor für die AfD sein….

    Ramelow: In Ostdeutschland, denke ich, geht es wirklich vor allem darum. Und dieses Gefühl bedient die AfD hervorragend.

    Wenn Ihre Analyse stimmt, dann sitzt bald ein AfD-Ministerpräsident auf diesem Stuhl.

    Ramelow: Ich hoffe, dass die Vernunft der Menschen und der liebe Gott das verhindern. Laut letzten Umfragen würde es in Thüringen für Rot-Rot-Grün nicht mehr reichen. Aber nach den Persönlichkeitswerten gefragt, schneidet der AfD-Kandidat Björn Höcke sehr schlecht ab. Daher müssen wir klar machen, wer AfD wählt, kriegt auch Höcke.

    Der schleswig-holsteinische CDU- Ministerpräsident Daniel Günther hat sich für eine Koalition mit der Linken im Osten offen gezeigt. Sind Sie das auch?

    Ramelow: Nein. Das ist keine Option.

    Ehrlich?

    Ramelow: Ich gebe Ihnen keine andere Antwort. Denn sobald ich sagen würde: „Ja, ich teile die Meinung von Daniel Günther“, steht am nächsten Tag in der Zeitung: Ramelow für Linke-CDU Regierung. Die Freude mache ich Ihnen aber nicht.

    Finden Sie den Vorschlag nun gut – oder nicht?

    Ramelow: Ich finde, Daniel Günther hat etwas Vernünftiges gesagt indem er auf die Selbstverständlichkeit hingewiesen hat, dass demokratische Parteien miteinander reden müssen. Herr Günther ist ein kluger, moderner Ministerpräsident. Er versteht, dass Ausgrenzung zu nichts führt. Das beherzigen wir hier in Thüringen im Übrigen schon seit langer Zeit.

    Welche Fehler haben Sie gemacht, wenn Sie auf das Erstarken der Rechten im Osten schauen?

    Ramelow: Ich setze die AfD und die Rechten nicht gleich.

    Dann reden wir nur von der AfD…

    Ramelow: Trotzdem muss man auch da unterscheiden. Wenn wir über die AfD in Thüringen sprechen, reden wir über eine Partei, die mit Herrn Höcke an der Spitze in modernem Gewand viel nationalsozialistisches Gedankengut propagiert und die ganz offensichtlich Stück für Stück zu einer profaschistischen Partei gewandelt wird. Der gemeinsame Auftritt von Herrn Höcke mit gewaltbereiten Nazis vor kurzem in Chemnitz war ein weiterer Schritt in diese Richtung.

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      Und die AfD im Bundestag?

      Ramelow: Ist unter demokratischen Maßstäben nur schwer bis gar nicht mehr tolerabel. Aber ich trenne zwischen den politischen Akteuren und denen, die die AfD wählen.

      Wie können Sie die Wähler zurückholen?

      Ramelow: Als Demokrat möchte ich, dass die Menschen zur Wahl gehen. Wenn Sie dann AfD wählen, kann ich mich nicht anschließend beschweren. Offenbar füllt dann die AfD eine politische Lücke aus, die andere Parteien hinterlassen haben.

      Eine starke AfD ist Ihnen also egal?

      Ramelow: Ich erteile keine Zensur in der Wahlkabine. Dass die AfD Erfolg hat, dafür tragen alle Parteien eine Mitverantwortung. Ich stelle mir die Frage, wie ich Wähler dazu bekomme, die Linke zu wählen.

      Sollte die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet werden? Teile der Linkspartei werden es schließlich auch.

      Ramelow: Ich halte vom Verfassungsschutz und den Geheimdiensten bekanntlich wenig bis gar nichts. Und die jüngsten Entgleisungen etwa von Herrn Maaßen haben mich in dieser Auffassung eher bestärkt. Aber das ist meine persönliche Geschichte. Ich wurde 30 Jahre lang widerrechtlich observiert, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat. Ich weiß, wovon ich rede. Also, es muss schon justiziable Gründe für eine Beobachtung geben.

      Aber wenn Herr Höcke so gefährlich ist, wie Sie sagen, wäre das doch ein Fall…

      Ramelow: Mit dem Handeln und den politischen Aussagen von Herrn Höcke muss man sich zu allererst politisch auseinandersetzen. Die Behörden sind dann gefragt, wenn es justiziabel ist. Ich darf an den u.a. von Frau Petry formulierten Vorwurf erinnern, dass Höcke sich unter dem Pseudonym Landolf Ladig in rechtsextremen Postillen zu Wort gemeldet hat. Im Übrigen prüft der thüringische Verfassungsschutz ja eine mögliche Beobachtung der AfD und mehr dazu habe ich nicht zu sagen.

      Ein Thema, welches die Große Koalition in Berlin beinahe gesprengt hätte, ist die Flüchtlingspolitik. Wie urteilen Sie darüber?

      Ramelow: Alle reden über Flüchtlinge, dabei sollten wir über viel stärker über ein Einwanderungsgesetz reden, das brauchen wir. Wir haben 25.000 Flüchtlinge in Thüringen. Wir reden über knapp fünf Prozent der Thüringer Bevölkerung, die nicht-deutsch sind. Menschen mit anderer Hautfarbe, Haarfarbe und anderer Religion haben es in diesem Land leider sehr schwer. Das ist ein Problem, darüber müssen wir reden.

      Denn ohne diese Menschen ist unser Land nicht zukunftsfähig. In unseren Krankenhäusern hat jeder vierte Arzt einen Migrationshintergrund. Auf der anderen Seite muss meine italienische Ehefrau die sechs Sprachen fließend spricht, immer noch erklären, dass sie wirklich auch Deutsch sprechen kann. Der springende Punkt ist, es reicht nicht Zuwanderungsland zu sein, wir müssen es auch sein wollen.

      Haben Sie den Flüchtlingsstreit zwischen Innenminister und Kanzlerin verstanden?

      Ramelow: Überhaupt nicht. Ich habe wirklich nicht verstanden, was Horst da veranstaltet hat.

      Sie duzen Seehofer?

      Ramelow: Ja. Aber davon mal abgesehen: Ich fürchte, durch dieses Sommertheater haben wir in der Politik alle an Ansehen verloren. Und am Ende ist so ein Streit eine Gratis Werbeaktion für die AfD.

      Wie lange geben Sie dieser Regierung noch?

      Ramelow: Ich hoffe, dass sie noch bis zum Ende der regulären Amtszeit durchhält, weil wir Länder einen verlässlichen und handlungsfähigen Ansprechpartner brauchen, wenn wir gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land erreichen wollen. Mittel- und langfristig wünsche ich mir eine rot-rot-grüne Bundesregierung. Mit einer starken SPD.

      In Berlin ist es im Moment Mode zu sagen: Ich will Kanzler werden! Wollen Sie das auch?

      Ramelow: Ich will Ministerpräsident bleiben. Papst wollte ich nie werden, nicht SPD-Vorsitzender und auch nicht Kanzler. Das ist nicht meine Welt. Die heißt Thüringen.