Berlin/Chemnitz. Tausende demonstrieren in Chemnitz, darunter viele Neonazis. Auslöser ist der Tod von Daniel H. Spurensuche an einem erschütterten Ort.
Daniel H. war lustig, lachte viel, hatte oft gute Laune. So beschreiben ihn Freunde. Sie haben ihn nun verloren. Daniel H. starb am vergangenen Sonntag, mutmaßlich erstochen durch zwei junge Männer aus Syrien und Irak am Rande des Chemnitzer Stadtfestes.
Doch eine Woche nach der Tat geht es nicht mehr nur um die schwere Straftat. Chemnitz ist zur Chiffre geworden – für die neue Macht von Rechtsextremisten und Hooligans auf den Straßen Sachsens. Für eine hilflos anmutende Polizei.
Und für die Frage, wie stark die Demokratie in Deutschland durch die Polarisierung auf der Straße und im Internet in Gefahr ist. Auch am heutigen Samstag demonstrierten Tausende Menschen in Chemnitz. Einer Stadt, die in diesen Tagen zum Zentrum einer erschütterten Republik geworden ist.
Tausende Menschen protestieren in Chemnitz
Vier Demonstrationen waren angekündigt, Tausende Menschen protestieren in der Stadt. Unter ihnen erneut Rechtsextremisten und Hooligans. Auf der Gegenseite kamen Parteien, Gewerkschaften, Organisationen und auch organisierte Linksautonome zum Protest gegen die rechten Aufmärsche. Alarmstimmung in Chemnitz – auch eine Woche nach dem Tod von Daniel H.
Chemnitz: Chronik eines Ausnahmezustands
Das Fußballspiel des HSV bei Dynamo Dresden wurde abgesagt. Die Polizei braucht alle Einsatzkräfte in Chemnitz. Etliche Hundertschaften der Polizei sollen Ausschreitungen verhindern. Es würden „Einsatzeinheiten, darunter Beweis- und Festnahmeeinheiten, Unterstützungskommandos, Reiterstaffeln, Wasserwerfer und Sonderwagen“ im Einsatz sein. Auch die Bundespolizei ist diesmal als Hilfe vor Ort. Leider müsse man mit Straftaten rechnen, sagte Landespolizeipräsident Jürgen Georgie.
Sachsens Regierende wollen sich diesmal nicht vorwerfen lassen, die Polizei sei überfordert. Anders als vergangenen Montag, als innerhalb weniger Stunden 6000 Rechtsextremisten und viele Sympathisanten zum Protest aufzogen. Und nur 600 Polizisten vor Ort waren. Die Lage eskalierte, es kam zu Übergriffen gegen linke Gegendemonstranten und Polizisten, Hitlergrüße wurden gezeigt.
Fehler in der Nacht der Krawalle
Offenbar hatte die Polizeiführung nicht nur die Lage falsch eingeschätzt – sie hatte auch Fehler in der Nacht der Krawalle gemacht. Zwar hatte die Einsatzleitung Verstärkung von der Bundespolizei angefordert.
Nach Informationen der „Welt“ hätte das Innenministerium in Dresden die Anfrage aber an die Zentrale der Bundespolizei in Potsdam und nicht an die untergeordnete Dienststelle im sächsischen Pirna richten müssen. Offenbar ein fataler Fehler mit Folgen.
Aufmarsch von Rechten in Chemnitz
Im Vorfeld der Proteste an diesem Samstag hatten die Sicherheitsbehörden erneut vor Gewalt gewarnt. Bis zum Nachmittag bleibt es zunächst friedlich, ein Bündnis aus rund 70 Vereinen, Organisationen und Parteien hatte zum Protest aufgerufen. Ihr Motto: Herz statt Hetze. Mit dabei: Bundespolitiker wie SPD-Vize Manuela Schwesig, Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock.
Tatort nicht weit entfernt
Am Nachmittag treffen in der Innenstadt die Rechten ein. Die AfD hat zu einem „Schweigemarsch“ für Daniel H. eingeladen. Einer der Redner ist der umstrittene Thüringer AfD-Chef Björn Höcke. Auch die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung aus Dresden nimmt teil.
Das rechtsextreme Bündnis „Pro Chemnitz“ – verantwortlich für die Demonstration, die am vergangenen Montag eskaliert war – zieht an diesem Samstag erneut auf die Straße in der Chemnitzer Innenstadt. Unweit von der Ecke, an der Daniel H. an seinen Stichverletzungen in Lunge und Herz starb.
Der Tatort liegt auf der Brückenstraße, nicht weit vom Denkmal von Karl Marx. Noch immer, eine Woche nach dem Messerangriff, legen Menschen Blumen nieder, zünden neue Kerzen an – oder die, die der Wind ausgeblasen hat. Die Mutter von H. war Deutsche, der Vater Kubaner. Hier in Chemnitz ist H. aufgewachsen, arbeitete zuletzt als Gebäudereiniger. Auf Facebook teilte Daniel H. Sprüche von Bob Marley und Sarah Wagenknecht, folgte der Gruppe „Kein Bock auf Nazis“. Daniel H. taugt nicht zum rechtsradikalen Märtyrer.
Manche zeigten den Hitlergruß
Seine Arbeitskollegen haben ein Kondolenzschreiben am Tatort ausgelegt. Offenbar mochte H. Skat: Jemand hat ein Skatblatt mitten in die Blumen gelegt, gleich neben ein Bier, Marke „Sternburg“. Felix B. steht dort und trauert. „Ich war ein Freund von Daniel, wir sind zur Schule gegangen“, sagt er. „Gerade er hätte nicht gewollt, dass sein Tod von denen benutzt wird.“
Er meint jene Gruppen, die am Montag demonstriert haben und zwischen „Deutschland den Deutschen“ auch immer wieder brüllten: „Daniel! Daniel!“. Jene Gruppen von Neonazis und Hooligans, die auch an diesem Samstag unter den Demonstranten in Chemnitz sind.
Felix B. sagt: „Die kannten ihn doch nicht.“ Er war auch am Montagabend hier bei den Kerzen – als unweit 6000 Rechte und Sympathisanten demonstrierten. Manche zeigten den Hitlergruß, zündeten Pyrotechnik, brüllten ausländerfeindliche Parolen. Es war der Tag, an dem die Straßen in Sachsen den Rechtsextremen gehörten – und nicht wenige Beifall klatschten.
Vieles bleibt unklar
Felix B. sagt, dass an dem Abend auch die Freundin von Daniel H. und Verwandte gekommen waren. Die seien ganz irritiert gewesen von den Vermummten die plötzlich unter den Trauernden waren. Auch am Donnerstag, als Ministerpräsident Michael Kretschmer in Chemnitz zum Sachsengespräch geladen hatte, waren Freunde von Daniel H. unter den Gästen. Man konnte sie daran erkennen, dass sie leise weinten, als der Ministerpräsident um eine Trauerminute bat. „Wir erinnern an Daniel“, sagte er, „um den seine Freunde und seine Familie trauert.“ Man könne nicht zur Tagesordnung übergehen nach dieser Tat. „Wir tun alles, dass dieses Verbrechen gesühnt wird.“
Seit einer Woche sitzen zwei junge Männer in Untersuchungshaft. Es sind Yousif A. und Alaa S. – zwei Flüchtlinge, einer aus dem Irak, einer aus Syrien. Für die Ermittler sind die beiden derzeit die Hauptverdächtigen. Durch einen Mitarbeiter der sächsischen Justiz war vergangene Woche der Haftbefehl gegen den Iraker Yousif A. an rechte Gruppen durchgestochen worden. Darin der Vorwurf: Totschlag. Fünf Mal sollen die Männer auf Daniel H. eingestochen haben.
Doch vieles bleibt auch noch unklar. Theorien, was passiert sein könnte, gibt es viele. Zuerst hatten Zeitungen berichtet, dass es ein Streit um Frauen war, doch das bestätigte sich nicht. Da gleich neben dem Tatort eine Filiale der Sparkasse steht, gab es Spekulationen, dass es um einen Raub ging. Doch auch das konnte die Polizei nicht bestätigen. Einer der Freunde von Daniel H. sagte am Donnerstag, es sei um „Zigaretten“ gegangen. Die beiden Täter hätten nach Zigaretten gefragt und keine bekommen. Dann sei der Streit eskaliert.
Hauptverdächtiger soll aus dem Irak kommen
Einer der mutmaßlichen Täter, Yousif A., ist den Behörden bekannt. Er ist vorbestraft wegen Körperverletzung, immer wieder viel er mit Delikten auf. 2015 war er über die Balkanroute wie viele Zehntausende Geflüchtete vor allem aus Syrien und Irak nach Deutschland gekommen. Eigentlich hätte Bulgarien seinen Antrag auf Asyl bearbeiten müssen, doch weil die deutschen Behörden Fristen versäumt hatten, ist nun das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bamf, für Yousif A. zuständig.
In den Tagen nach der Tat dringen Details über den Hauptbeschuldigten an die Öffentlichkeit. Er soll aus dem Nordirak stammen. Laut dem kurdischen Nachrichtensender Rudaw sollen Bekannte von A. aus Chemnitz gesagt haben, dass er aus Sumel stammt, einer irakischen Kleinstadt in der Provinz Dohuk in der kurdischen Autonomieregion. Die Kurdenregion war auch zur Hochzeit der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ vergleichsweise sicher, dorthin hatten sich mehr als zwei Millionen Menschen geflüchtet.
Nach Informationen des „Spiegel“ hielt das Bamf die Fluchtgeschichte von Yousif A. nicht für glaubhaft. Zudem sollen gleich zwei Personalpapiere, die er vorgelegt hatte, gefälscht gewesen sein. Am 29. August lehnte die Behörde seinen Asylantrag ab. Drei Jahre nach seiner Einreise. Und drei Tage nach dem Tod von Daniel H.