Berlin/Chemnitz. Tausende demonstrieren in Chemnitz, darunter viele Neonazis. Auslöser ist der Tod von Daniel H. Spurensuche an einem erschütterten Ort.

Daniel H. war lustig, lachte viel, hatte oft gute Laune. So beschreiben ihn Freunde. Sie haben ihn nun verloren. Daniel H. starb am vergangenen Sonntag, mutmaßlich erstochen durch zwei junge Männer aus Syrien und Irak am Rande des Chemnitzer Stadtfestes.

Doch eine Woche nach der Tat geht es nicht mehr nur um die schwere Straftat. Chemnitz ist zur Chiffre geworden – für die neue Macht von Rechtsextremisten und Hooligans auf den Straßen Sachsens. Für eine hilflos anmutende Polizei.

Und für die Frage, wie stark die Demokratie in Deutschland durch die Polarisierung auf der Straße und im Internet in Gefahr ist. Auch am heutigen Samstag demonstrierten Tausende Menschen in Chemnitz. Einer Stadt, die in diesen Tagen zum Zentrum einer erschütterten Republik geworden ist.

Tausende Menschen protestieren in Chemnitz

Vier Demonstrationen waren angekündigt, Tausende Menschen protestieren in der Stadt. Unter ihnen erneut Rechtsextremisten und Hooligans. Auf der Gegenseite kamen Parteien, Gewerkschaften, Organisationen und auch organisierte Linksautonome zum Protest gegen die rechten Aufmärsche. Alarmstimmung in Chemnitz – auch eine Woche nach dem Tod von Daniel H.

Chemnitz: Chronik eines Ausnahmezustands

In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben.
In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben. © dpa | Jan Woitas
Journalisten werden attackiert.
Journalisten werden attackiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz.
Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte.
Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt.
Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt. © dpa | Jan Woitas
Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht.
Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort.
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort. © dpa | Sebastian Kahnert
Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen.
Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen. © dpa | ---
Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber.
Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber. © dpa | Ralf Hirschberger
Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil.
Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil. © dpa | Ralf Hirschberger
Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren.
Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren. © dpa | Sebastian Kahnert
Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf.
Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus.
Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus. © dpa | Sebastian Kahnert
„Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
„Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ © dpa | Sebastian Kahnert
Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert.
Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert. © dpa | Sebastian Kahnert
Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln.
Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln. © dpa | Boris Roessler
„Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert.
„Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf.
Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf. © REUTERS | Matthias Rietschel
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage.
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage. © dpa | Kay Nietfeld
Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde.
Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde. © dpa | Hendrik Schmidt
Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin.
Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin. © dpa | Hendrik Schmidt
Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen.
Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen. © Getty Images | Michele Tantussi
Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen.
Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen. © dpa | Kay Nietfeld
Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst.
Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst. © picture alliance/dpa | dpa Picture-Alliance / Bernd von Jutrczenka
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Das Fußballspiel des HSV bei Dynamo Dresden wurde abgesagt. Die Polizei braucht alle Einsatzkräfte in Chemnitz. Etliche Hundertschaften der Polizei sollen Ausschreitungen verhindern. Es würden „Einsatzeinheiten, darunter Beweis- und Festnahmeeinheiten, Unterstützungskommandos, Reiterstaffeln, Wasserwerfer und Sonderwagen“ im Einsatz sein. Auch die Bundespolizei ist diesmal als Hilfe vor Ort. Leider müsse man mit Straftaten rechnen, sagte Landespolizeipräsident Jürgen Georgie.

Sachsens Regierende wollen sich diesmal nicht vorwerfen lassen, die Polizei sei überfordert. Anders als vergangenen Montag, als innerhalb weniger Stunden 6000 Rechtsextremisten und viele Sympathisanten zum Protest aufzogen. Und nur 600 Polizisten vor Ort waren. Die Lage eskalierte, es kam zu Übergriffen gegen linke Gegendemonstranten und Polizisten, Hitlergrüße wurden gezeigt.

Fehler in der Nacht der Krawalle

Offenbar hatte die Polizeiführung nicht nur die Lage falsch eingeschätzt – sie hatte auch Fehler in der Nacht der Krawalle gemacht. Zwar hatte die Einsatzleitung Verstärkung von der Bundespolizei angefordert.

Nach Informationen der „Welt“ hätte das Innenministerium in Dresden die Anfrage aber an die Zentrale der Bundespolizei in Potsdam und nicht an die untergeordnete Dienststelle im sächsischen Pirna richten müssen. Offenbar ein fataler Fehler mit Folgen.

Aufmarsch von Rechten in Chemnitz

Nach dem tödlichen Angriff auf einen 35-jährigen Mann in Chemnitz und anschließenden Ausschreitungen am Sonntag ist es in der sächsischen Stadt am Montag erneut zu Demonstrationen und Gewaltausbrüchen gekommen. Als Reaktion versammelten sich ebenfalls mehrere linke Gruppierungen, um sich dem Aufmarsch entgegenzustellen.
Nach dem tödlichen Angriff auf einen 35-jährigen Mann in Chemnitz und anschließenden Ausschreitungen am Sonntag ist es in der sächsischen Stadt am Montag erneut zu Demonstrationen und Gewaltausbrüchen gekommen. Als Reaktion versammelten sich ebenfalls mehrere linke Gruppierungen, um sich dem Aufmarsch entgegenzustellen. © dpa | Jan Woitas
Rechte Demonstranten hielten Schilder mit der Aufschrift: „Asylflut stoppen“ in die Höhe.
Rechte Demonstranten hielten Schilder mit der Aufschrift: „Asylflut stoppen“ in die Höhe. © dpa | Jan Woitas
Auch Banner mit der Aufschrift „Kein Zutritt für Terror“ waren zu sehen, wie hier vor dem Karl-Marx-Monument.
Auch Banner mit der Aufschrift „Kein Zutritt für Terror“ waren zu sehen, wie hier vor dem Karl-Marx-Monument. © dpa | Sebastian Willnow
Die Polizei versuchte, die Protestierenden zurückzuhalten.
Die Polizei versuchte, die Protestierenden zurückzuhalten. © dpa | Sebastian Willnow
Ein rechter Demonstrant mit Siegesgeste.
Ein rechter Demonstrant mit Siegesgeste. © Getty Images | Sean Gallup
Im Laufe des Montagabends zogen die rechten Demonstranten durch die Chemnitzer Innenstadt. Teilnehmer berichteten von einer aggressiven Stimmung.
Im Laufe des Montagabends zogen die rechten Demonstranten durch die Chemnitzer Innenstadt. Teilnehmer berichteten von einer aggressiven Stimmung. © Getty Images | Sean Gallup
Während den Ausschreitungen wurden Böller und Pyrotechnik gezündet.
Während den Ausschreitungen wurden Böller und Pyrotechnik gezündet. © Getty Images | Sean Gallup
„Aus beiden Versammlungslagern gab es Würfe von Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen. Dadurch wurden einige Menschen verletzt und müssen nun behandelt werden. Wir fordern eindringlich auf friedlich zu bleiben“, schrieb die Polizei Sachsen auf Twitter.
„Aus beiden Versammlungslagern gab es Würfe von Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen. Dadurch wurden einige Menschen verletzt und müssen nun behandelt werden. Wir fordern eindringlich auf friedlich zu bleiben“, schrieb die Polizei Sachsen auf Twitter. © REUTERS | MATTHIAS RIETSCHEL
Im Laufe des Tages trafen Unterstützer der rechten und linken Szene immer wieder aufeinander. Die Polizei versuchte, beide Lager auseinanderzuhalten.
Im Laufe des Tages trafen Unterstützer der rechten und linken Szene immer wieder aufeinander. Die Polizei versuchte, beide Lager auseinanderzuhalten. © Getty Images | Sean Gallup
Die Polizei eskortiert einen verletzten Teilnehmer.
Die Polizei eskortiert einen verletzten Teilnehmer. © Getty Images | Sean Gallup
Schon am Sonntag war eine spontane Demonstration nach den tödlichen Messerstichen auf einen Deutschen beim Chemnitzer Stadtfest in Angriffen auf Migranten gemündet. Aufgrund einer aktuellen Gefährdungslage verlassen die Besucher vergangenen Sonntag gegen 16 Uhr das Stadtfest.
Schon am Sonntag war eine spontane Demonstration nach den tödlichen Messerstichen auf einen Deutschen beim Chemnitzer Stadtfest in Angriffen auf Migranten gemündet. Aufgrund einer aktuellen Gefährdungslage verlassen die Besucher vergangenen Sonntag gegen 16 Uhr das Stadtfest. © dpa | Alexander Prautzsch
Blumen und Kerzen liegen in der Chemnitzer Innenstadt dort, wo der 35-Jährige am Sonntag angegriffen wurde. Er starb wenig später.
Blumen und Kerzen liegen in der Chemnitzer Innenstadt dort, wo der 35-Jährige am Sonntag angegriffen wurde. Er starb wenig später. © dpa | Sebastian Willnow
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Im Vorfeld der Proteste an diesem Samstag hatten die Sicherheitsbehörden erneut vor Gewalt gewarnt. Bis zum Nachmittag bleibt es zunächst friedlich, ein Bündnis aus rund 70 Vereinen, Organisationen und Parteien hatte zum Protest aufgerufen. Ihr Motto: Herz statt Hetze. Mit dabei: Bundespolitiker wie SPD-Vize Manuela Schwesig, Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock.

Tatort nicht weit entfernt

Am Nachmittag treffen in der Innenstadt die Rechten ein. Die AfD hat zu einem „Schweigemarsch“ für Daniel H. eingeladen. Einer der Redner ist der umstrittene Thüringer AfD-Chef Björn Höcke. Auch die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung aus Dresden nimmt teil.

Das rechtsextreme Bündnis „Pro Chemnitz“ – verantwortlich für die Demonstration, die am vergangenen Montag eskaliert war – zieht an diesem Samstag erneut auf die Straße in der Chemnitzer Innenstadt. Unweit von der Ecke, an der Daniel H. an seinen Stichverletzungen in Lunge und Herz starb.

Der Tatort liegt auf der Brückenstraße, nicht weit vom Denkmal von Karl Marx. Noch immer, eine Woche nach dem Messerangriff, legen Menschen Blumen nieder, zünden neue Kerzen an – oder die, die der Wind ausgeblasen hat. Die Mutter von H. war Deutsche, der Vater Kubaner. Hier in Chemnitz ist H. aufgewachsen, arbeitete zuletzt als Gebäudereiniger. Auf Facebook teilte Daniel H. Sprüche von Bob Marley und Sarah Wagenknecht, folgte der Gruppe „Kein Bock auf Nazis“. Daniel H. taugt nicht zum rechtsradikalen Märtyrer.

Manche zeigten den Hitlergruß

Seine Arbeitskollegen haben ein Kondolenzschreiben am Tatort ausgelegt. Offenbar mochte H. Skat: Jemand hat ein Skatblatt mitten in die Blumen gelegt, gleich neben ein Bier, Marke „Sternburg“. Felix B. steht dort und trauert. „Ich war ein Freund von Daniel, wir sind zur Schule gegangen“, sagt er. „Gerade er hätte nicht gewollt, dass sein Tod von denen benutzt wird.“

Er meint jene Gruppen, die am Montag demonstriert haben und zwischen „Deutschland den Deutschen“ auch immer wieder brüllten: „Daniel! Daniel!“. Jene Gruppen von Neonazis und Hooligans, die auch an diesem Samstag unter den Demonstranten in Chemnitz sind.

Felix B. sagt: „Die kannten ihn doch nicht.“ Er war auch am Montagabend hier bei den Kerzen – als unweit 6000 Rechte und Sympathisanten demonstrierten. Manche zeigten den Hitlergruß, zündeten Pyrotechnik, brüllten ausländerfeindliche Parolen. Es war der Tag, an dem die Straßen in Sachsen den Rechtsextremen gehörten – und nicht wenige Beifall klatschten.

Vieles bleibt unklar

Felix B. sagt, dass an dem Abend auch die Freundin von Daniel H. und Verwandte gekommen waren. Die seien ganz irritiert gewesen von den Vermummten die plötzlich unter den Trauernden waren. Auch am Donnerstag, als Ministerpräsident Michael Kretschmer in Chemnitz zum Sachsengespräch geladen hatte, waren Freunde von Daniel H. unter den Gästen. Man konnte sie daran erkennen, dass sie leise weinten, als der Ministerpräsident um eine Trauerminute bat. „Wir erinnern an Daniel“, sagte er, „um den seine Freunde und seine Familie trauert.“ Man könne nicht zur Tagesordnung übergehen nach dieser Tat. „Wir tun alles, dass dieses Verbrechen gesühnt wird.“

Seit einer Woche sitzen zwei junge Männer in Untersuchungshaft. Es sind Yousif A. und Alaa S. – zwei Flüchtlinge, einer aus dem Irak, einer aus Syrien. Für die Ermittler sind die beiden derzeit die Hauptverdächtigen. Durch einen Mitarbeiter der sächsischen Justiz war vergangene Woche der Haftbefehl gegen den Iraker Yousif A. an rechte Gruppen durchgestochen worden. Darin der Vorwurf: Totschlag. Fünf Mal sollen die Männer auf Daniel H. eingestochen haben.

Doch vieles bleibt auch noch unklar. Theorien, was passiert sein könnte, gibt es viele. Zuerst hatten Zeitungen berichtet, dass es ein Streit um Frauen war, doch das bestätigte sich nicht. Da gleich neben dem Tatort eine Filiale der Sparkasse steht, gab es Spekulationen, dass es um einen Raub ging. Doch auch das konnte die Polizei nicht bestätigen. Einer der Freunde von Daniel H. sagte am Donnerstag, es sei um „Zigaretten“ gegangen. Die beiden Täter hätten nach Zigaretten gefragt und keine bekommen. Dann sei der Streit eskaliert.

Hauptverdächtiger soll aus dem Irak kommen

Einer der mutmaßlichen Täter, Yousif A., ist den Behörden bekannt. Er ist vorbestraft wegen Körperverletzung, immer wieder viel er mit Delikten auf. 2015 war er über die Balkanroute wie viele Zehntausende Geflüchtete vor allem aus Syrien und Irak nach Deutschland gekommen. Eigentlich hätte Bulgarien seinen Antrag auf Asyl bearbeiten müssen, doch weil die deutschen Behörden Fristen versäumt hatten, ist nun das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bamf, für Yousif A. zuständig.

In den Tagen nach der Tat dringen Details über den Hauptbeschuldigten an die Öffentlichkeit. Er soll aus dem Nordirak stammen. Laut dem kurdischen Nachrichtensender Rudaw sollen Bekannte von A. aus Chemnitz gesagt haben, dass er aus Sumel stammt, einer irakischen Kleinstadt in der Provinz Dohuk in der kurdischen Autonomieregion. Die Kurdenregion war auch zur Hochzeit der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ vergleichsweise sicher, dorthin hatten sich mehr als zwei Millionen Menschen geflüchtet.

Nach Informationen des „Spiegel“ hielt das Bamf die Fluchtgeschichte von Yousif A. nicht für glaubhaft. Zudem sollen gleich zwei Personalpapiere, die er vorgelegt hatte, gefälscht gewesen sein. Am 29. August lehnte die Behörde seinen Asylantrag ab. Drei Jahre nach seiner Einreise. Und drei Tage nach dem Tod von Daniel H.