Chemnitz. Der Staat hat rechtsextreme Gefahren im Osten für lange Zeit unterschätzt. Jetzt hat er eine Menge zu tun. Baustellen gibt es genügend.

Es ist falsch, zu sagen: Nichts ist passiert. Die Bundesregierung hat Millionen Euro in Projekte investiert, die den Kampf gegen Rassismus stärken sollen. Auch in Sachsen. Die Stadt Chemnitz gab jedes Jahr 80.000 Euro aus für Initiativen, die Weltoffenheit fördern sollen. Eine mobile Polizeiwache ist Anlaufstelle für verängstigte Bürger.

Richtig ist auch: Das ist zu wenig. Längst hätte die Landesregierung in Sachsen einen Notfallplan auflegen müssen. Militante Netzwerke sind seit den 1990er-Jahren dort fest verankert. Was in Chemnitz passiert, ist nur möglich, weil diese rechtsextreme Szene nie entschlossen bekämpft wurde.

Der Kampf gegen Rechtsextremismus hat viele Fronten

Und weil sie beim Thema Flüchtlinge vor allem im Osten spürt, dass ihre Parolen bis in die Mitte auf Widerhall stoßen. Es ist Zeit, einzuschreiten – der Kampf gegen Rechtsextremismus hat viele Fronten: bei der Polizei, in den Schulen, in den Stadtteilen, im Internet, in den rechten Gruppierungen.

Die Polizei: Seit 2015 polarisiert sich der Meinungsstreit zwischen Gegnern und Befürwortern einer liberalen Flüchtlingspolitik – auch auf der Straße. Immer wieder eskaliert die Lage, wie jetzt in Chemnitz. Polizisten stehen mittendrin, hören permanent Parolen der Rechten. Die Polizei muss ihre Resilienz gegen Hetzer und Demokratiefeinde stärken.

Aufmarsch von Rechten in Chemnitz

Nach dem tödlichen Angriff auf einen 35-jährigen Mann in Chemnitz und anschließenden Ausschreitungen am Sonntag ist es in der sächsischen Stadt am Montag erneut zu Demonstrationen und Gewaltausbrüchen gekommen. Als Reaktion versammelten sich ebenfalls mehrere linke Gruppierungen, um sich dem Aufmarsch entgegenzustellen.
Nach dem tödlichen Angriff auf einen 35-jährigen Mann in Chemnitz und anschließenden Ausschreitungen am Sonntag ist es in der sächsischen Stadt am Montag erneut zu Demonstrationen und Gewaltausbrüchen gekommen. Als Reaktion versammelten sich ebenfalls mehrere linke Gruppierungen, um sich dem Aufmarsch entgegenzustellen. © dpa | Jan Woitas
Rechte Demonstranten hielten Schilder mit der Aufschrift: „Asylflut stoppen“ in die Höhe.
Rechte Demonstranten hielten Schilder mit der Aufschrift: „Asylflut stoppen“ in die Höhe. © dpa | Jan Woitas
Auch Banner mit der Aufschrift „Kein Zutritt für Terror“ waren zu sehen, wie hier vor dem Karl-Marx-Monument.
Auch Banner mit der Aufschrift „Kein Zutritt für Terror“ waren zu sehen, wie hier vor dem Karl-Marx-Monument. © dpa | Sebastian Willnow
Die Polizei versuchte, die Protestierenden zurückzuhalten.
Die Polizei versuchte, die Protestierenden zurückzuhalten. © dpa | Sebastian Willnow
Ein rechter Demonstrant mit Siegesgeste.
Ein rechter Demonstrant mit Siegesgeste. © Getty Images | Sean Gallup
Im Laufe des Montagabends zogen die rechten Demonstranten durch die Chemnitzer Innenstadt. Teilnehmer berichteten von einer aggressiven Stimmung.
Im Laufe des Montagabends zogen die rechten Demonstranten durch die Chemnitzer Innenstadt. Teilnehmer berichteten von einer aggressiven Stimmung. © Getty Images | Sean Gallup
Während den Ausschreitungen wurden Böller und Pyrotechnik gezündet.
Während den Ausschreitungen wurden Böller und Pyrotechnik gezündet. © Getty Images | Sean Gallup
„Aus beiden Versammlungslagern gab es Würfe von Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen. Dadurch wurden einige Menschen verletzt und müssen nun behandelt werden. Wir fordern eindringlich auf friedlich zu bleiben“, schrieb die Polizei Sachsen auf Twitter.
„Aus beiden Versammlungslagern gab es Würfe von Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen. Dadurch wurden einige Menschen verletzt und müssen nun behandelt werden. Wir fordern eindringlich auf friedlich zu bleiben“, schrieb die Polizei Sachsen auf Twitter. © REUTERS | MATTHIAS RIETSCHEL
Im Laufe des Tages trafen Unterstützer der rechten und linken Szene immer wieder aufeinander. Die Polizei versuchte, beide Lager auseinanderzuhalten.
Im Laufe des Tages trafen Unterstützer der rechten und linken Szene immer wieder aufeinander. Die Polizei versuchte, beide Lager auseinanderzuhalten. © Getty Images | Sean Gallup
Die Polizei eskortiert einen verletzten Teilnehmer.
Die Polizei eskortiert einen verletzten Teilnehmer. © Getty Images | Sean Gallup
Schon am Sonntag war eine spontane Demonstration nach den tödlichen Messerstichen auf einen Deutschen beim Chemnitzer Stadtfest in Angriffen auf Migranten gemündet. Aufgrund einer aktuellen Gefährdungslage verlassen die Besucher vergangenen Sonntag gegen 16 Uhr das Stadtfest.
Schon am Sonntag war eine spontane Demonstration nach den tödlichen Messerstichen auf einen Deutschen beim Chemnitzer Stadtfest in Angriffen auf Migranten gemündet. Aufgrund einer aktuellen Gefährdungslage verlassen die Besucher vergangenen Sonntag gegen 16 Uhr das Stadtfest. © dpa | Alexander Prautzsch
Blumen und Kerzen liegen in der Chemnitzer Innenstadt dort, wo der 35-Jährige am Sonntag angegriffen wurde. Er starb wenig später.
Blumen und Kerzen liegen in der Chemnitzer Innenstadt dort, wo der 35-Jährige am Sonntag angegriffen wurde. Er starb wenig später. © dpa | Sebastian Willnow
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Je polarisierter Debatten auf die Straßen getragen werden, desto wichtiger ist ein demokratiestabiler und geschult neutraler Einsatzbeamter. Fortbildungen dürfen nicht mehr ausfallen, weil Überstunden und Stadioneinsätze die Polizei an ihre Grenze bringt.

Die Schulen: Das Klassenzimmer kann Keimzelle neuer rechter Bewegungen sein. Es kann aber auch der beste Schutz vor Radikalisierung sein. Pläne in Sachsens Regierung für ein Schulfach „Wertekunde“ gibt es schon. Das muss schnell umgesetzt werden – doch mit einem neuen Lehrplan ist es nicht getan. Lehrer brauchen Unterrichtsmaterial und Wissen, um Demokratie so zu verankern, dass die Inhalte nicht wie ein staatlich verordnetes Ideologie-Briefing bei den Schülern ankommen.

Die Stadtteile: Rechtsextremisten haben Hochburgen. Chemnitz ist so eine, schon der rechtsterroristische NSU um Beate Zschäpe zog hierher. Deshalb muss der Staat den Kampf gegen Anti-Demokraten lokal führen – und er braucht dafür die Menschen vor Ort.

Sozialarbeiter, Leiter und Pädagogen in Jugendzentren. Aber auch Psychologen müssen in der Stadtteilarbeit eine viel stärkere Rolle spielen. Oftmals steckt hinter einer Radikalisierung ein Mensch, der Hilfe sucht.

Das Internet: Straße, Schule, Jugendzentrum – all das sind Orte, in denen Rechtsextremisten nach Anhängern für ihre Hetze fischen. All das aber ist seit dem Aufstieg von sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook in den Hintergrund gerückt. Der Staat muss Vereine aufbauen und schulen, die als professionelle Deradikalisierer in die Debatten im Internet eingreifen – und gegenhalten. Nicht verdeckt, sondern offen muss die Zivilgesellschaft Flagge zeigen.

Rechtsextreme Gruppen: Seit Jahren reden Regierende in Sachsen davon, dass Hass und Gewalt keinen Raum haben dürfen. Seit Jahren aber breiten sich Hass und Gewalt aus. In Chemnitz, Heidenau, Freital. Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften müssen stärker gegen Neonazi-Gruppen vorgehen.

Straftaten schneller ahnden

Straftaten wie Volksverhetzung und das Zeigen von Hitlergrüßen müssen schneller geahndet werden. Im Kampf gegen Islamisten hatten Polizei und Justiz Erfolg mit Vereinsverboten und harten Urteilen . Im Kampf gegen rechts muss das ebenso gelten – gerade für Sachsen. Warnende Worte reichen nicht mehr.