Chemnitz/Berlin. Nach Ausschreitungen in Chemnitz hat sich Michael Kretschmer Bürgerfragen gestellt. Kein einfacher Termin für den Ministerpräsidenten.

Das stets verschmitzte, selbstbewusste Lächeln, das ihn einst auszeichnete, ist längst aus seinem Gesicht verschwunden. Ernst, angestrengt, gar erschöpft wirkt Michael Kretschmer, der junge Ministerpräsident von Sachsen, als er sich am Donnerstagabend in Chemnitz angesichts der Krawalle von Rechten, Hooligans und der AfD nach einer tödlichen Messerstecherei einem Bürgerdialog stellt.

Was soll er sagen, wenn eine redegewandte Mittvierzigerin zwar einräumt, eigentlich sei sie zufrieden und es gehe ihr gut. Auf die Straße sei sie dennoch gegangen, weil sie sich nicht ernst genommen fühle in ihren Sorgen um Sicherheit. Oder Bildung. Eine andere Frau sagt, sie habe Angst, wenn sie durch die Straßen laufe.

Die Bürger sind aufgebracht. Dabei macht es sich Michael Kretschmer wirklich nicht leicht. Er setzt sich mitten rein in die rund 550 Menschen, von denen ihn viele ausbuhen und auslachen. Der Ministerpräsident hält das aus, er schlägt die Beine andersherum übereinander, mahnt: „Jetzt mal langsam… langsam.“ Nur einmal, gegen Ende des Bürgerdialogs im Chemnitzer Stadion, da wird es ihm zuviel, da steht er auf und sagt wütend: „Moment mal! So nicht!“ Im Visier hat er einen Mann im Publikum, der ihm vorwirft, den Tod des 35-jährigen Daniel H. herunterzuspielen. „Das stimmt so nicht“, ruft er.

Michael Kretschmer wurde unverhofft Ministerpräsident

Im Prinzip weiß Kretschmer nicht, was er den Bürgern entgegensetzen soll, die immer wieder klagen, es habe doch gar keine Verfolgungsjagden gegeben. Das sei doch von den Medien „hochgekocht“ worden. „Diese Dinge sind wirklich passiert“, sagt er schließlich in die Buhrufe hinein.

Kretschmer wirkt ratlos. Erst seit Dezember 2017 ist er im Amt. Damals hatte er noch einen „Schlag in die Magengrube“ zu verkraften, weil er bei der Bundestagswahl am 25. September 2017 in seiner Heimatstadt Görlitz sein Direktmandat an einen AfD-Politiker verloren hatte. Seine rasante Karriere in der CDU, wo er 2005 Generalsekretär in Sachsen und 2009 Vizechef der Bundestagsfraktion wurde, hätte vorbei sein können. Doch es kam anders.

Denn im Oktober 2017 entschied sich Stanislaw Tillich, als Ministerpräsident aufzuhören. Und die Sachsen-CDU wollte Kretschmer als Nachfolger. „Er hat eine hohe politische Reife“, sagte Tillich über Kretschmer, um einen Vorbehalt entkräften, den viele hegen, wenn ihnen der Niederschlesier Kretschmer das erste Mal begegnet: „Mann, ist der jung!“ Der CDU-Politiker ist 43 Jahre alt. Aber mit seinem Dreitagebart und den engen Anzügen wirkt viel jünger. In der Union gilt er als einer der wenigen Hoffnungsträger im Osten.

Kretschmer wird es schwer gegen die AfD haben

Er soll den Vormarsch der AfD stoppen, in einem Jahr wird der Landtag gewählt. Kretschmer könnte im wirtschaftlich prosperierenden Sachsen – wo die CDU seit der Wende mit großem Rückhalt als „Staatspartei“ agierte, Kurt Biedenkopf wie ein „Sonnenkönig“ regierte – ausgerechnet jener Christdemokrat sein, der die Macht verspielt. Eine Zusammenarbeit mit der Linken will er nicht. Doch es könnte sehr schwierig werden, nach der Wahl überhaupt noch eine Mehrheit gegen die AfD zu organisieren.

Das alles wäre schon ein schwerer Rucksack für einen neuen Regierungschef. Nun aber steht Kretschmer früher als erwartet vor der größten Bewährungsprobe seiner Laufbahn. Die Stimmung ist aufgeheizt nach den jüngsten Vorfällen. Nun soll er Gemüter beruhigen.

Chemnitzer Haftbefehl - Kretschmer verspricht rasche Aufklärung

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    Nach Chemnitz häufen sich die Fragen, ob er dem Amt wirklich gewachsen ist, ob die Luft ganz oben für den christdemokratischen Highflyer nicht doch zu dünn sein könnte. Denn nach dem zweiten Krawalltag in Chemnitz – wo zunächst in der Nacht zu Sonntag am Rande eines Stadtfestes ein Syrer und ein Iraker einen 35-jährigen Deutschen mutmaßlich erstachen, zwei seiner Begleiter schwer verletzten und in Untersuchungshaft sitzen – schickte Kretschmer erst andere vor, um dann zu sagen: „Die Polizei hat einen super Job gemacht.“ Dabei gab die Polizei selbst zu, die Lage unterschätzt zu haben. Dass einer der beiden Haftbefehle rechten Gruppen zugespielt wurde und den Weg ins Netz fand, ließ die Landesregierung mit Kretschmer an der Spitze schlecht aussehen. „Diese Veröffentlichung ist schändlich, und sie ist strafbewehrt“, sagte er am Donnerstag in Chemnitz.

    Justizbeamter hatte Haftbefehl verbreitet

    Stunden später outet sich ein Justizbeamter. Der 39-Jährige sagte der „Bild“-Zeitung, er habe den Haftbefehl fotografiert und unter anderem an die Wählervereinigung „Pro Chemnitz“ geschickt, „weil ich wollte, dass die Wahrheit und nur die Wahrheit ans Licht kommt“. Zuvor hatte die Polizei nach „Bild“-Angaben Handys beschlagnahmt und Wohnungen durchsucht, um den Maulwurf in der Justiz zu finden.

    Angreifbar machte sich der Ministerpräsident, weil er erst am Donnerstag und nicht bereits am Montag in Chemnitz auftrat. Wäre es nicht sein Job als Landesvater gewesen, in der ersten Reihe am Karl-Marx-Denkmal Flagge zu zeigen? Es sind harte, entbehrungsreiche Wochen für den Familienmenschen Kretschmer, der mit einer Journalistin verheiratet ist, seine beiden Kinder in die Kita bringt, und gerne zum „Boofen“ (Zelten) in der Sächsischen Schweiz ist.

    Los ging es Mitte August. Als Kanzlerin Angela Merkel nach ihrem Urlaub in Dresden vorbeischaute, hatten Anhänger der AfD und der fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung demonstriert. Darunter war – wie sich erst später herausstellte – ein Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamts (LKA), der privat mit Deutschland-Käppi bei der Kundgebung unterwegs war. Er griff ein ZDF-Kamerateam verbal an. Danach wurde das Kamerateam etwa eine Dreiviertelstunde lang von der Polizei festgehalten. Wie am Donnerstag bekannt wurde, verlässt der LKA-Mitarbeiter den Polizeidienst und wird versetzt.

    Kretschmer verurteilte die Pöbler, stellte sich aber auch hinter die Polizei. Der Ministerpräsident musste dafür viel Kritik einstecken, etwa von der SPD, mit der er in Dresden in einer großen Koalition regiert. „Die Union muss sich hinterfragen“, sagte SPD-Bundesvize Ralf Stegner.

    Kretschmer ist Kritiker von Merkels „Wir schaffen das“

    Vom sächsischen SPD-Chef Martin Dulig bekommt Kretschmer dagegen Rückendeckung. Ja, die CDU habe lange Rassismus und Rechtsextremismus verharmlost. Dulig, der als Vize-Ministerpräsident eng mit Kretschmer zusammenarbeitet, sagt, dieser spreche anders als Tillich (der spät Fehler einräumte) Probleme an. So trat Kretschmer im ­April bei Gegenkundgebungen zum Rechtsrock-Festival „Schild und Schwert“ in Ostritz nahe Görlitz auf.

    In der CDU liegt er auf der Linie der Konservativen, versteht sich gut mit Thüringens CDU-Fraktionschef Mike Mohring, dem JU-Vorsitzenden Paul Ziemiak und Gesundheitsminister Jens Spahn. Auch der Görlitzer ist ein dezidierter Kritiker von Merkels liberaler Flüchtlingspolitik. Er muss das Gefühl vieler Sachsen im Blick behalten, die sich abgehängt fühlen und neidisch-ängstlich auf Migranten schauen. Aber forsch twittern ist zu wenig. Kann er eine tief verunsicherte Gesellschaft zusammenhalten? Jetzt schaut die ganze Republik auf Michael Kretschmer.