Berlin. Barbara John ist Ombudsfrau der Regierung für die Opfer der NSU-Terrorgruppe. Sie fordert mehr Einsatz für eine offene Gesellschaft.

Fünf Jahre lang mussten die Familien der Opfer des NSU um Beate Zschäpe auf ein Urteil warten. Am Mittwoch ist es soweit. Seit 2011 hat Barbara John die Wut, die Trauer und das Leid der Angehörigen erlebt.

Als Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer der rechtsextremistischen NSU-Terrorgruppe hat die CDU-Politikerin die Menschen während dieser Zeit unterstützt. Nun aber warnt sie: Mit dem Ende des Prozess darf die rechtsextremistische Mordserie nicht in den Gerichtsarchiven verschwinden. Denn rechte Gewalt, sagt die heute 80 Jahre alte John, sei noch immer allgegenwärtig.

Frau John, Sie haben den Prozess Seite an Seite mit den Angehörigen der Opfer erlebt. Welches Urteil erwarten die Familien?

Barbara John: Sie erwarten, dass der Richter für Beate Zschäpe die geforderte Höchststrafe, also Lebenslang unter der Ergänzung der Schwere der Straftat und Sicherungsverwahrung, tatsächlich verhängt. Die Morde des NSU waren ein grausames und teuflisches Verbrechen, zehn Menschen wurden ermordet, weitere 28 schwer verletzt.

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    Wenn Beate Zschäpe jetzt sagt, sie wollte die Morde nicht, warum hat sie dann nicht das Geringste unternommen und ist zur Polizei gegangen, wie es die gesetzliche Pflicht eines jeden Menschen ist.

    Wie wurden Zschäpes letzte Worte aufgenommen?

    John: Wir können ihr das, was sie gesagt hat, nicht glauben. Die Worte der Hauptangeklagten waren mehr ein Flehen darum, auch als Opfer gesehen zu werden. Eine große Selbstbemitleidung. Formal hat sie sich zwar entschuldigt, am Ende war das aber der Versuch, sich selbst zu schützen. Sie hatte mehr als fünf Jahre Zeit, etwas zu sagen. Es kam nichts.

    Wenn man über einen so langen Zeitraum mit Menschen zusammenlebt, mit ihnen in den Urlaub fährt, glücklich ist, dann kann das keine erzwungene Beziehung unter Drohungen sein, wie Zschäpe das Verhältnis zu Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in ihren Schlussworten darstellen wollte. Sie ist für die Opferfamilien die Managerin und die Logistikerin des NSU, die Hand in Hand arbeitend mit den beiden Männern diese Hinrichtungen möglich gemacht hat.

    Sie haben wiederholt Fehler der Behörden bei der Aufklärung der Mordserie kritisiert.

    John: Diese Fehler konnten nicht aufgearbeitet werden. Der Prozess ist eine streng juristische Aufgabe. Doch danach darf die Debatte um die NSU-Morde nicht in den Gerichtsarchiven verschwinden. Wir müssen eine Form der Untersuchung etablieren, die vom Staat losgelöst ist.

    Es braucht eine Kommission aus Experten, die sich weiterhin mit dem Rechtsterrorismus der Gruppe befasst und dem krassen Versagen bei den Ermittlungen der Länderpolizeien nachgeht. Diese Kommission muss auf die Fehler des Verfassungsschutzes blicken und Lösungen für eine bessere Sicherheitsarchitektur vorschlagen.

    Hat der Verfassungsschutz die richtigen Konsequenzen gezogen?

    John: Was wurde denn geändert?

    Beispielsweise wurde die Finanzierung von V-Personen reguliert, Dienstvorschriften wurden geändert, die Führung der V-Personen wechselt nun häufiger …

    John: Das sind bloß verfahrensmäßige Petitessen. Es sind Veränderungen, die den Kern der Versäumnisse nicht berühren – nämlich die damalige Weigerung, das reale Geschehen, also Serienmorde an nicht Deutschstämmigen, als einen Ausbruch biologisch-rassistischer Gewalt zu erkennen. Das passte damals nicht in ihre Weltdeutung. Also durfte es das nicht geben.

    Ich wünsche mir beispielsweise jetzt einen viel engeren Kontakt zwischen dem Verfassungsschutz und den Opferfamilien. Erklären, warum damals so viel schief gelaufen ist und was jetzt besser läuft. Die Signale, die in dem Fall um den Mord an Halit Yozgat ausgesandt worden sind, waren fatal.

    Erst wurde gelogen, der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme sei nicht am Tatort gewesen, dann musste man zugeben, dass er dort war. Aber gesehen haben will er nichts. Temme arbeitet die ganze Zeit als Beamter weiter. Das sind Signale, die Vertrauen in bei den Opfern kosten und nicht nur bei ihnen.

    Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte versprochen: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären.“ Hat sie das erfüllt?

    John: Das war auch so gemeint, aber es kam doch anders. Beispielsweise als kurz danach Akten mit NSU-Bezügen vernichtet wurden, als Beamte vor den Untersuchungsausschuss immer wieder beteuerten, es konnte damals nicht an rechtsextremistischen Rassismus gedacht werden. Auch das Wollen einer Kanzlerin ist nicht stark genug, Trägheit und festgefahrene Vorurteile im Verwaltungshandeln strikt hierarchisch geführter Behörden aufzulösen, selbst nicht nach einem solchen Schock.

    Einzelne Anwälte der Opferfamilien kritisieren Sie. Es heißt, die Angehörigen hätten nie richtig verstanden, was Ihre Funktion war.

    John: Schade, dass sie nicht nachgefragt haben, was sie damit konkret meinen. Ich habe mich mit Nöten, Sorgen, offenen rechtlichen Fragen jeglicher Art von zehn Hinterbliebenenfamilien und etwa 30 Opfern aus Köln auseinanderzusetzen. Ihre Probleme in Zusammenarbeit mit Behörden und auch Krankenhäusern, Sozialämtern und Jobcentern aus sechs Bundesländern zu lösen, so gut es geht. Und das geschieht auch heute noch nach einer sechsjährigen Tätigkeit mit viel positiver Resonanz der Familien.

    In den vergangenen Jahren gab es etliche Anschläge auch auf Flüchtlingsheime. Hat Deutschland nichts gelernt aus dem NSU?

    John: Politik und Bevölkerung haben bis heute nicht voll verstanden, was es bedeutet, ein großes Einwanderungsland zu sein, kulturell und religiös immer vielfältiger zu werden. Das bedeutet, sich selbst zu ändern. Das ist für keinen leicht. In einer offenen Gesellschaft gehören kulturelle Unterschieden zum Alltag.

    Wir müssen lernen, was wirklich wichtig ist im Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen – und was unwichtig. Die Grundhaltung muss sein, dass wir alle an der Aufgabe arbeiten müssen, friedfertig unsere Konflikte auszuhandeln und jedes Feindbild von den anderen, die angeblich nicht hierher passen, zu vermeiden. Wenn wir das nicht lernen, entsteht auf vielen Seiten radikale Abgrenzung, Gewalt eingeschlossen.

    Ist die AfD Nährboden für rechte Gewalt?

    John: Die AfD hält Einwanderung, insbesondere muslimische, für untragbar. Das ist das Gegenteil von Zusammenhalt entwickeln. Politik heißt, ein System zu etablieren, wie unterschiedliche Menschen friedlich miteinander leben können.

    Die AfD aber erzeugt Feindbilder. Abgrenzungen beginnen mit Feindbildern von anderen und enden nicht selten mit gegenseitiger Gewalt. Wer Feindbilder schafft, kann oft nicht mehr verhindern, dass einige das als Aufforderung zur Gewalt verstehen.

    Was werden Sie tun, damit die Debatte um die Mordserie nun nicht beendet ist?

    John: Ich werbe in Politik und Gesellschaft dafür, den Opfern terroristischer Gewalt eine Stimme zu geben, einen Verein für die Opfer terroristischer Anschläge in Deutschland zu gründen – Opfern von islamistischen Anschlägen gleichermaßen wie Opfern von Rechtsterror.

    In europäischen Ländern wie beispielsweise Norwegen, Frankreich, Spanien gibt es seit Längerem Vereine von Gewaltopfern und Hinterbliebenen terroristischer Gewalt. Sie sind unter anderem Ansprechpartner für Politik, Medien, Sicherheitsbehörden, Schulen, arbeiten mit Opferberatungsstellen und Opfergruppen zusammen.

    Ein solcher Verein braucht die Unterstützung der Bundesregierung, der Gesellschaft, und des Opferbeauftragten der Bundesregierung.