Berlin. Harte Worte, persönlicher Groll: Der Unionsstreit über den Umgang mit Asylsuchenden schwelt seit Jahren. Eine Chronik der Eskalation.

Sie haben telefoniert, zig SMS geschrieben und sich auf offener Bühne gestritten: Auf die ein oder andere Art reden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) seit fast drei Jahren darüber, wie die deutsche Asylpolitik aussehen soll. Dabei schwanken die beiden und ihre Parteien zwischen offenen Anfeindungen und zähneknirschend geschlossenen Kompromissen.

September 2015: Die Ausnahmesituation an der Grenze

Wer heute mit Horst Seehofer spricht, hört oft diesen Satz: Er habe ja schon damals gewarnt. Davor, dass es ein Fehler der Kanzlerin war, Zehntausende Menschen vom Betonboden des Budapester Bahnhofs oder der ungarischen Autobahn nach Deutschland zu holen.

Es ist September 2015, der Beginn dessen, was heute Flüchtlingskrise heißt. Zehntausende Syrer, Iraker, Afghanen verlassen seit dem Sommer überfüllte Flüchtlingscamps in Jordanien, Libanon, Türkei und Griechenland und ziehen über den Balkan nach Westeuropa. Mehrere Tausend ertrinken im Mittelmeer, auch Kinder. Die EU hat diese Krise über Jahre verdrängt, Deutschland sich nie ernsthaft um Asylpolitik gekümmert. Doch jetzt kommen in einem Jahr eine Million Menschen nach Europa.

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    Merkel leistet eine humanitäre Geste, lässt Flüchtlinge ins Land. Eine Ausnahme, wie die Bundesregierung schnell versichert. Streng genommen hätte die Bundespolizei die Menschen abweisen müssen. Merkel aber will Zeit gewinnen – und schon damals eine europäische Lösung finden. Schon damals gegen die CSU-Spitze. Die EU-Staaten aber machen Asylpolitik auf eigene Faust. Und in Deutschland bleibt es nicht bei der Ausnahme. In den anderthalb Jahren danach kommen etwa eine Million Menschen hierher. Die Septemberwochen haben einen Keil zwischen Merkel und Seehofer getrieben.

    Streit auf offener Bühne: Der CSU Parteitag in München

    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). © dpa | Michael Kappeler

    Wie unzufrieden die CSU mit den Ereignissen vom September wirklich ist, erfährt Merkel beim Parteitag der Bayern zwei Monate später in München. Die Schwesterpartei will die Zahl der Asylsuchenden, die nach Deutschland kommen, reduzieren – mittels einer Obergrenze. Die Vokabel, die in den nächsten eineinhalb Jahren das Verhältnis der Unionsparteien so maßgeblich prägen soll, fällt zu dieser Zeit zum ersten Mal.

    Merkel hält davon nichts und verbirgt das auch nicht. Sie will stattdessen eine europäische Lösung, wie sie in ihrer Rede sagt: „Mit diesem Ansatz, so die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, schaffen wir es im Unterschied zu einer einseitig festgelegten nationalen Obergrenze, im Interesse aller zu handeln.“

    Seehofer widerspricht ihr auf offener Bühne. Es ist eine Szene, wie man sie selten gesehen hat: 13 Minuten lang steht die Kanzlerin neben dem CSU-Chef und muss sich schweigend Seehofers Kampferklärung anhören: „Wir sehen uns zu diesem Thema wieder.“ Sie verlässt den Saal durch den Seiteneingang. Ab diesem Moment ist es nicht mehr nur ein Streit in der Sache, sondern auch eine persönliche Fehde. Es wird zwei Jahre dauern, bis die Kanzlerin wieder zu einem Parteitag der Schwesterpartei kommt.

    In der Zwischenzeit wird die Asylgesetzgebung maßgeblich verschärft: Mit dem Asylpaket II, im Februar 2016 von Union und SPD beschlossen, sollen Verfahren beschleunigt und Abschiebungen erleichtert werden. Kernpunkte sind die Aussetzung des Familiennachzugs für Geflüchtete mit eingeschränktem Schutz und eine Leistungskürzung für Asylbewerber. Außerdem ist es nun wesentlich schwieriger, Gesundheitsprobleme als Hinderungsgrund für eine Abschiebung geltend zu machen.

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      Doch die Frage der Obergrenze ist damit nicht gelöst. Seehofer macht eine feste Begrenzung der Zuwanderung im November 2016 zur Bedingung für eine erneute Regierungsbeteiligung. Sogar ein eigener Kanzlerkandidat ist zeitweise im Gespräch. Letztendlich ringt man sich dazu durch, Merkels erneute Kandidatur zu unterstützen. Ins Wahlprogramm der CDU schafft es die Obergrenze nicht. Im „Bayernplan“, dem gesonderten CSU-Programm, sei dies aber „unabdingbar“. Wenige Wochen vor der Wahl ist der Streit, der zu diesem Zeitpunkt mehr als eineinhalb Jahre dauert, noch immer ungelöst.

      Der Formelkompromiss: Das Ende des Streits um die Obergrenze

      Ein – vorläufiges – Ende findet der unionsinterne Krach erst nach der Bundestagswahl. Die Situation lässt ihnen keine Wahl: Wenn die Union als Wahlsiegerin mit Grünen und FDP sondieren will, wie gemeinsame Positionen aussehen könnten, muss sie erst einmal die eigene kennen. Nach zähen Gesprächen einigt man sich auf einen Kompromiss: Das Wort Obergrenze kommt im Papier nicht vor, der Geist dahinter ist aber präsent. Die Zahl der Aufnahmen soll 200.000 Menschen pro Jahr nicht übersteigen. Gleichzeitig halten sich die Parteien eine Hintertür offen. Sollte das Ziel wegen „internationaler oder nationaler Entwicklungen“ nicht eingehalten werden, können Regierung und Parlament eine Anpassung nach oben oder unten beschließen.

      Streit um Seehofers „Masterplan“

      62 von 63 Punkten sind zwischen Merkel und Seehofer unstrittig. Die Kanzlerin stimmt dem CSU-Chef in fast allem zu, lässt ihn seinen „Masterplan Asyl“ ausarbeiten: Transitlager für Flüchtlinge und Migranten, Sachleistungen statt Geld für Asylbewerber. Wer als Flüchtling nicht mitwirkt am Asylantrag, wird bestraft. All das ist Konsens in CDU und CSU. Nur ein Punkt nicht: Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze, direkt und ohne Asylverfahren – sofern die Menschen schon in einem anderen EU-Staat Schutz beantragt haben.

      Seehofers CSU will die Zurückweisungen um jeden Preis durchsetzen, Merkel sieht dadurch ihr Ziel einer gerechten Verteilung von Flüchtlingen in der EU torpediert. Seehofer aber glaubt nicht an eine EU-weite Lösung. Doch seine geplante Grenzpolitik ist umstritten. Einige Rechtsexperten sehen sie vom deutschen und dem EU-Recht gedeckt, weil laut der Dublin-Verordnung der EU-Staat für das Verfahren verantwortlich ist, in dem ein Flüchtling zuerst einen Antrag auf Asyl stellt. Doch ist ein Mensch erst einmal in Deutschland, wird er derzeit in der Mehrheit der Fälle nicht in den anderen EU-Staat zurückgeschickt.

      Andere Experten halten Seehofers geplante Zurückweisungen dagegen für rechtswidrig. Denn nach geltender Dublin-Verordnung könne ein Flüchtling nur in den Staat der EU-Einreise abgeschoben werden, vor allem Italien und Griechenland. Ein Zurück von Deutschland nach Österreich sei nach „Dublin“ unrechtmäßig. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention untersagt das Zurückdrängen von Asylsuchenden an der Grenze. Dieser eine Punkt von 63 im „Masterplan“ ist nun ein neues Kapitel im Dauerstreit zwischen Merkel und Seehofer. Wird es auch das Schlusskapitel sein?