Straßburg. Frankreichs Plan zur Reform der EU hat in Berlin einen Koalitionsstreit entfacht. Die Unionsfraktion will keine Kompetenzen abgeben.

Angela Merkel beschäftigte sich am Dienstag kurzzeitig mit dem Wohlergehen eines Vogels. Die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern war zu Besuch im Kanzleramt und überbrachte Nachricht vom Kiwi „Whauwhau“, den die Kanzlerin einst bei einem Besuch ausgewildert hatte. Dem Vogel gehe es gut, so die Botschaft.

Doch die guten Nachrichten für Merkel währten nur kurz: Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor dem Europa-Parlament in Straßburg auftrat, um eine weitere Grundsatzrede zu Europa zu halten, ist in Berlin ein veritabler Streit zwischen Union und SPD über die Reformen für die EU entbrannt.

Merkel will Fortschritte in der Verteidigungspolitik

Dabei drängt die Zeit: Die EU-Staats- und -Regierungschefs wollen bereits bei einem Gipfel im Juni über einen Umbau befinden. Am Donnerstag schon kommt Macron zu Besuch nach Berlin.

Merkel beruhigte zunächst, zeigte sich zuversichtlich, dass Deutschland und Frankreich für den EU-Gipfel gemeinsame Reformvorschläge vorlegen werden. Es gehe auch nicht nur um die umstrittene Frage, wie sich die Euro-Zone weiterentwickle, sagte die CDU-Chefin. Für sie seien Fortschritte in der gemeinsamen Verteidigungs- oder Forschungspolitik ebenso wichtig.

Macron forder eine Wiedergeburt Europas

Emmanuel Macron.
Emmanuel Macron. © dpa | Elyxandro Cegarra

Der französische Präsident drückte es etwas pathetischer aus. „Ich möchte nicht zu einer Generation der Schlafwandler gehören“, rief Macron. „Die europäische Demokratie ist angesichts der Wirren in der Welt unsere Trumpfkarte.“ Deshalb dürfe es in der EU keinen „Rückzug auf nationale Egoismen“ geben, Gräben zwischen Nord und Süd, Ost und West müssten überwunden werden – notwendig sei eine „Wiedergeburt Europas“.

Doch in Berlin geht es derzeit eher um nackte Zahlen. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gab sich ob des französischen Appells ungerührt: „Ich habe keine Veranlassung Macrons persönliche Glücksgefühle zu meinem politischen Programm zu machen.“ Nicht alles, was Macron vorschlage, könne in deutschem Interesse sein. Eine europäische Arbeitslosenversicherung etwa, von Macron seit Längerem angedacht, führe zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit in anderen Ländern auf deutsche Kosten, so der CSU-Politiker.

Unionsfraktion möchte keine Kompetenzen abgeben

Dobrindt betonte, der Streit mit der SPD drehe sich vor allem um die Frage, inwieweit die nationalen Parlamente bei Reformen eingebunden werden sollen. Diese hätten sich mühevoll Beteiligungsrechte beim Rettungsmechanismus ESM erstritten, daher sei es nicht vorstellbar, dass sie dann etwa bei der geplanten Weiterentwicklung zu einem europäischen Währungsfonds außen vor gelassen werden sollten.

Mit Blick auf den Koalitionsstreit und den Vorwurf von SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, die Union ziehe „rote Linien“, sagte Dobrindt: „Bremsen tun eher die, die nationale Rechte nach Brüssel abgeben wollen.“ Auch auf der CDU-Seite der Unionsfraktion gibt es massiven Widerstand gegen Macrons Vorstellungen: „Gute Europäer sind nicht diejenigen, die immer mehr Kompetenzen für die Europäische Union fordern“, heißt es etwa in einem Papier von CDU-Finanzpolitikern. In einem anderen Dokument wird massiv auf die Zustimmungsrechte des Parlaments gepocht. Wollen die Unionspolitiker den Verhandlungsspielraum von Kanzlerin Merkel einschränken?

Die SPD ist irritiert über das Verhalten der Union

Der parlamentarische Geschäftsführer der Union, Michael Grosse-Brömer (CDU), versuchte, dem Eindruck entgegenzutreten. Merkel werde ihre Verhandlungen auf dem EU-Gipfel führen, die Fraktion und der Bundestag würden dann entscheiden, wenn es nach den gesetzlichen Regelungen über die Parlamentsbeteiligung später notwendig sei, sagte Grosse-Brömer. „Es ist keine klare Beschlusslage, die wir ihr mitgeben.“ Die Kanzlerin werde aber die Meinung der Fraktion immer bei ihren Verhandlungen berücksichtigen.

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    Bei der SPD wiederum wächst die Irritation über das Verhalten der Union. „Europa braucht den Aufbruch, den wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Die Union sollte sich hüten, jetzt den Bremsklotz zu spielen und alles auf die lange Bank zu schieben“, sagte die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Natascha Kohnen unserer Redaktion. Das Zeitfenster für Reformen in Europa sei nicht groß. „Wir werden es nutzen, unter dieser Voraussetzung haben auch unsere Mitglieder der Koalition zugestimmt“, sagte Kohnen.

    Deutschland zahlt jährlich 24 Milliarden Euro in den EU-Haushalt

    Die SPD-Spitze hatte bei der erfolgreichen Mitgliederbefragung über einen Eintritt in die große Koalition mit der Union sehr stark mit dem Thema Europa geworben, das federführend von dem später zurückgetretenen SPD-Chef Martin Schulz verhandelt worden war.

    Emmanuel Macron (r) und Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission.
    Emmanuel Macron (r) und Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission. © dpa | Jean Francois Badias

    Um welche Summen geht es eigentlich? Derzeit zahlt Deutschland jährlich 24 Milliarden Euro in den EU-Haushalt, den Rückfluss an Fördermitteln abgezogen, liegt der Nettobeitrag bei 13 bis 14 Milliarden Euro. Deutschland ist damit der größte Nettozahler – und mit dem Ausscheiden Großbritanniens wird diese einsame Spitzenposition noch stärker. Wobei Politik und Wirtschaft mehrheitlich nicht müde werden zu betonen, dass Deutschland als großes Exportland auch besonders stark von der EU und ihrem Binnenmarkt profitiert, die Gelder mithin gut angelegt seien.

    Neue Aufgabenschwerpunkte der EU in den nächsten Jahren

    Klar ist aber, dass auf die Mitgliedsländer nach dem Brexit neue Lasten zukommen: Der Ausfall Großbritanniens als Beitragszahler reißt ab 2021 eine Lücke von bis zu zwölf bis 14 Milliarden Euro – weitere zehn Milliarden Euro an zusätzlichen jährlichem Finanzbedarf kommen im nächsten Jahrzehnt durch neue Aufgabenschwerpunkte der EU hinzu: stärkere Zusammenarbeit bei Verteidigung, besserer Schutz der Außengrenzen, mehr Forschungsförderung und anderes.

    Auch wenn Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) für die mittelfristige Finanzplanung von 2020 bis 2027 die Hälfte der Mehrausgaben von etwa 20 Milliarden Euro durch Einsparungen im etwa 150 Milliarden Euro großen EU-Haushalt gegenfinanzieren will, blieben mindestens zehn Milliarden Euro, die zusätzlich aufgebracht werden müssen.

    Deutschland muss nach dem Brexit mehr zahlen

    Oettinger hat deshalb bereits signalisiert, dass auf Deutschland jährlich 3,5 Milliarden zusätzlicher Beitragsmittel zukommen. Das könnte wohl im Rahmen dessen liegen, was die Koalition an Mehrzahlungen zu stemmen bereit ist.

    Manche Reformpläne, die in Brüssel diskutiert werden, dürften zusätzliche Milliarden kosten. Ein eigener Haushalt für die Euro-Zone etwa: Macrons ursprüngliche Idee, dass der von ihm geforderte Etat der Euro-Zone drei Prozent der Wirtschaftsleistung der Euro-Länder umfassen soll, würde einen dreistelligen Milliarden-Betrag jährlich erfordern. Oder der Ausbau des europäischen Grenzschutzes: Es gibt Überlegungen für einen massiven Ausbau, der jährlich 20 Milliarden Euro kosten würde.

    Niederlande, Österreich und Schweden wollen Einsparungen im EU-Etat

    Vieles andere, was diskutiert wird, ist nicht zu beziffern – und würde in der Konsequenz auch nicht zwingend die Staatskassen direkt belasten, sondern neue Haftungsrisiken etwa für die Banken bedeuten. Stichwort Bankenunion, wo die diskutierte Einlagensicherung dazu führen könnte, dass deutsche Banken im Fall einer Bankenpleite in anderen EU-Ländern für die Spareinlagen der betroffenen Kunden mithaften würde.

    Aber all diese Überlegungen sind vorerst nur Theorie. Denn in der EU gibt es inzwischen eine starke Front von Ländern, die alle zusätzlichen Einzahlungen in den EU-Haushalt ablehnen: Angeführt vom Nettozahler Niederlande, sperren sich etwa auch Österreich oder Schweden gegen üppige Ausgabepläne und fordern stattdessen Einsparungen im EU-Etat.

    Macron besucht Merkel am Donnerstag in Berlin

    Dobrindt bekannte sich dazu, dass Deutschland mehr Geld nach Brüssel überweisen soll. Aber gerade weil Deutschland mehr Geld überweisen wolle, sei eine strikte Überprüfung der bisherigen Ausgaben der EU wichtig – und die richtige Einordnung neuer Aufgaben, wie etwa der Schutz der Außengrenzen und der Grenzsicherungsmission Frontex. Dobrindt ging davon aus, dass dies mittelfristig über zehn Milliarden Euro pro Jahr kosten werde – obwohl es dazu noch keine offiziellen Berechnungen gebe. Aus diesem Grund sei auch die CSU bereit, mehr Geld dafür auszugeben – aber nur, wenn gleichzeitig Einsparpotenziale ausgeschöpft würden.

    Deutschland werde „seine eigenständigen Beiträge“ einbringen, sagte Merkel. Sie freue sich auf Macrons Besuch in Berlin am Donnerstag. Vor dem EU-Rat werde es zudem noch einen deutsch-französischen Ministerrat geben. „Insofern ist mir nicht bange, das wir nicht ein starkes Paket auf die Beine stellen werden“, ist sie überzeugt.