Ankara. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden rund 54.400 Menschen verhaftet. Die „Säuberungen“ halten an, obwohl es an Platz mangelt.

Peter Steudtner ist frei, aber Zehntausende andere politische Häftlinge sitzen in der Türkei weiter hinter Gittern, darunter auch mindestens zehn Deutsche. Die prominentesten sind die seit April inhaftierte Übersetzerin Mesale Tolu und der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, der Ende Februar in Untersuchungshaft kam. Yücel ist einer von 171 Journalisten, die in der Türkei inhaftiert sind, so eine Statistik der Oppositionspartei CHP.

Nach Angaben von Ministerpräsident Binali Yildirim saßen Ende September etwa 54.400 Menschen im Zusammenhang mit dem Putschversuch vom Juli 2016 in Untersuchungshaft. Inzwischen dürfte die Zahl weiter gestiegen sein, denn Staatschef Recep Tayyip Erdogan setzt seine „Säuberungen“ unvermindert fort. Allein in der ersten Oktoberhälfte wurden nach Angaben des Innenministeriums 1756 Personen wegen angeblicher Verbindungen zum Netzwerk des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen festgenommen.

Rund 22.000 Häftlinge müssen also auf dem Boden schlafen

Entsprechend eng geht es in den türkischen Gefängnissen zu. Zwar hatte die Justiz bereits wenige Wochen nach dem Putschversuch rund 38.000 Strafgefangene freigelassen, um Platz für die politischen Häftlinge zu schaffen. Und Ende August wurden weitere 13.000 „gewöhnliche“ Kriminelle auf freien Fuß gesetzt oder in den offenen Vollzug verlegt. Dennoch sind die Haftanstalten völlig überbelegt.

Peter Steudtner aus türkischer U-Haft entlassen

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    Nach Angaben des Justizministeriums von dieser Woche gibt es in den 384 türkischen Vollzugsanstalten 229.790 Häftlinge. Die Gefängnisse sind aber nur für 207.339 Insassen ausgelegt. Rund 22.000 Häftlinge müssen also auf dem Boden schlafen. Von den knapp 230.000 Gefangenen sind fast 88.000 Untersuchungshäftlinge. Sie leben teils in Isolationshaft, wie Deniz Yücel, teils mit Dutzenden anderen Gefangenen in überfüllten Gemeinschaftszellen.

    Wirtschaftsminister: „Wir werden sie in Löcher stecken“

    Das sind in den Augen des türkischen Wirtschaftsministers Nihat Zeybekci wohl mehr als angemessene Haftbedingungen. Er stellt sich den Strafvollzug für Gülen-Anhänger so vor: „Wir werden sie in Löcher stecken, und sie werden nie wieder Allahs Sonne sehen, solange sie atmen. Sie werden nie wieder eine menschliche Stimme hören. Sie werden uns anflehen, sie zu töten, um sie aus ihrem Elend zu erlösen.“

    In der Haftanstalt Silivri war der Menschenrechtler Peter Steudtner festgehalten worden. Jetzt konnte er das Gefängnis verlassen.
    In der Haftanstalt Silivri war der Menschenrechtler Peter Steudtner festgehalten worden. Jetzt konnte er das Gefängnis verlassen. © picture alliance / AP Photo | dpa Picture-Alliance / rcackett|File|Filed|8/17/2016 12

    Mit Hochdruck lässt Staatschef Erdogan im ganzen Land neue Gefängnisse bauen. Im vergangenen Jahr wurden 38 Haftanstalten fertiggestellt. Nach Angaben von Justiz-Staatssekretär Kenan Ipek sind weitere 50 Gefängnisse im Bau. Sie sollen speziell der Inhaftierung mutmaßlicher Gülen-Anhänger dienen.

    Wie die Zeitung „Hürriyet“ berichtet, sind im Haushalt des kommenden Jahres umgerechnet 1,25 Milliarden Euro für den Bau neuer Gefängnisse eingeplant. Das ist mehr als ein Drittel des gesamten Justizetats. Um die Errichtung zu beschleunigen, ließ Staatschef Erdogan unter dem Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch gilt, per Dekret die Genehmigungsverfahren und Bauvorschriften vereinfachen.

    Neue Razzien, neue Häftlinge

    Durch die Freilassung Peter Steudtners und der anderen Menschenrechtler sind zwar in der Haftanstalt Silivri, dem größten Gefängnis Europas, jetzt acht Plätze frei geworden. Sie werden aber nicht lange frei bleiben. Am Donnerstag begann die Polizei mit Razzien, um Haftbefehle gegen 121 mutmaßliche Gülen-Anhänger zu vollstrecken.

    Nach Steudtners Rückkehr konzentriert sich jetzt die Aufmerksamkeit umso mehr auf den Fall Yücel. Der Anwalt des Journalisten hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde gegen die Untersuchungshaft eingelegt. Die Türkei sollte sich dazu eigentlich bis zum Dienstag äußern, bat aber um eine Fristverlängerung. Das Gericht gewährte drei Wochen Aufschub. Sollten die Straßburger Richter zu dem Schluss kommen, dass die Inhaftierung menschenrechtswidrig ist, wäre die Türkei zur Freilassung Yücels verpflichtet.