Berlin. Im Kompromiss der Union gibt es entscheidene Fußnoten. Bei einer neuen großen Flüchtlingswelle geht der Streit wieder von vorne los.

Wenn sich die Politik manchmal fragt, warum viele Wähler genug von ihr haben, wäre der nervenzermürbende Streit um den Begriff „Obergrenze für Flüchtlinge“ ein besonders gutes Beispiel. Nachdem die Union sich in der Sache nicht einigen konnte, ersetzte über viele Monate Wortklauberei die Politik. Man musste den Eindruck gewinnen, dass nicht Lösungen gesucht werden, sondern Begriffe, mit denen die Koalitionäre irgendwie leben können. Als ob es nicht völlig egal wäre, ob die Regierung eine Obergrenze, eine Begrenzung, eine Flexi-Grenze oder den „atmenden Deckel“ für die Aufnahme von Flüchtlingen beschließt.

Was die Deutschen gerne vor der Bundestagswahl gewusst hätten, wurde jetzt – vom Wähler erzwungen – mit zweiwöchiger Verspätung nachgereicht. CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer ist dabei das Kunststück gelungen, eine Formel zu finden, bei der sich jeder zum Sieger deuten kann. Die Kanzlerin kann sagen, der Begriff Obergrenze ist vom Tisch. Und der bayerische Ministerpräsident kann mit der Zahl 200.000 prahlen. Mehr Flüchtlinge dürfen pro Jahr nicht kommen, es sei denn …

Die Union lässt sich eine Hintertür offen

Und dann beginnen schon die entscheidenden Fußnoten, die am Ende das wichtigste Türchen offenlassen. Trotz einiger vernünftiger Forderungen, die allerdings wenig neu sind, lautet der entscheidende Satz im Kompromisspapier: „Sollte das oben genannte Ziel wider Erwarten durch internationale oder nationale Entwicklungen nicht eingehalten werden können, werden die Bundesregierung und der Bundestag geeignete Anpassungen des Ziels nach unten oder oben beschließen“.

Das heißt auf Deutsch: Bei einer neuen großen Flüchtlingswelle Richtung Deutschland geht der Streit um die Flüchtlinge wieder von vorne los.

Deshalb ist es zu früh für einen dramatischen Abgesang auf das Grundrecht auf Asyl. Und auch die Scharfmacher in der Flüchtlingsfrage haben keinen Grund für vorzeitiges Triumphgeheul. Angela Merkel und Horst Seehofer haben einen Kompromiss mit Verfallsdatum gefunden und lediglich einen tiefen Riss zugekleistert, damit die Sondierungen mit Liberalen und Grünen überhaupt starten können. Wie dünn die Spachtelmasse ist, werden wir ab nächster Woche in den ersten Verhandlungsrunden der vier potenziellen Jamaika-Regierungspartner sehen.

Grüne und FDP sind auffallend ruhig

Es ist längst nicht ausgemacht, dass die schwarz-gelb-grüne Koalition überhaupt zustande kommt, auch wenn die öffentlichen Einlassungen von Grünen- und FDP-Politikern zum Kompromiss in der Union auffallend zurückhaltend sind. Alle Beteiligten wissen, dass der Bewegungsspielraum für Horst Seehofer nach der beschlossen Kompromissformel ungefähr null Millimeter beträgt. Das ist wenig für Verhandlungen, die allen große Zugeständnisse abverlangen werden.

Unionsparteien legen Streit um Obergrenze bei

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    Gerade beim Thema Flüchtlinge fehlt einem die Fantasie, wie die Positionen von Christsozialen und Grünen vereinbar sind. Aber vielleicht ist der gefundene Kompromiss der Union ja die Blaupause für „Jamaika“. Sprich: Für eine windelweiche Koalitionsvereinbarung, die sich für den Tag X alle Optionen offenhält. Für eine Situation, in der alle Bemühungen, das Problem auf europäischer Ebene zu lösen, scheitern und Verfolgte und Verzweifelte mit den Füßen abstimmen – mit Deutschland als Ziel ihrer Träume.

    Das wäre dann eine denkbar unstabile Regierungskoalition mit eingebauter Sollbruchstelle, abhängig von aktuellen Flüchtlingsströmen. Mit einer Kanzlerin am seidenen Faden – und am Ende müsste doch noch vorzeitig der Wähler ran.