Die Union ist zwar stärkste Partei, musste aber Verluste hinnehmen. Die Regierungsbildung wird schwierig, sagt ein Parteienforscher.

Eckhard Jesse von der Technischen Universität Chemnitz ist Politologe und einer der führenden Extremismusforscher des Landes.

Herr Jesse, was überrascht Sie am meisten bei diesem Wahlausgang?

Eckhard Jesse: Im Kern überrascht mich dieser Wahlausgang nicht. Es war klar, dass die beiden großen Parteien Stimmen einbüßen würden. Sowohl Union als auch SPD konnten ihre Wählerschaft nicht voll mobilisieren, weil im Grunde vorher klar war, wer von beiden stärkste Kraft wird.

Die Union hat klar gewonnen, aber ist sie auch Wahlsieger?

Jesse: Die Union ist natürlich eindeutig die erste Partei, aber sie wird es schwer haben, eine Regierung zu bilden. Die SPD hat bereits angekündigt, in die Opposition zu gehen. Und dann bleibt eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen übrig. Aber zwischen Angela Merkel und FDP-Chef Christian Lindner stimmt die Chemie nicht. Und die Grünen können überhaupt nicht mit der FDP und der CSU. Auch wenn es schwierig wird: Es kann nur diese Dreierkonstellation geben. Es ist wieder wie 2013 ein Pyrrhussieg für die Kanzlerin.

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    Hat Angela Merkel im Wahlkampf Fehler gemacht?

    Jesse: Im Wahlkampf hat sie eigentlich weitgehend alles richtig gemacht. Durch ihre unprätentiöse Art hat sie – auch im TV-Duell mit Martin Schulz – überzeugt. Fehler kann ich da keine erkennen. Aber sie hat vor dem Wahlkampf Fehler gemacht, indem sie das Flüchtlingsthema massiv unterschätzt hat. Alles in allem muss man aber sagen: Der Abstand zwischen Union und SPD ist gewaltig, und das ist Merkels Erfolg.

    Der Kanzlerin ist bei ihrer Wahlkampftour vor allem im Osten der Republik auch Wut und Hass entgegengeschlagen. Ist sie damit klug umgegangen.

    Jesse: Ja. Ich habe es gut gefunden, dass sie die Termine nicht abgesagt hat, sondern immer wieder hingefahren ist. Sie hat allerdings nicht spontan genug reagiert. Sie hätte mehr auf die Zwischenrufe eingehen sollen. Aber es war gut, dass sie die Tour im Osten durchgezogen hat. Wahrscheinlich wollte sie auch zeigen, dass sie solchen Dingen nicht ausweicht, sondern sich ihnen stellt. Dass die Ostdeutschen Angela Merkel im Osten derart ausgepfiffen haben, war übrigens für mich eine große Überraschung.

    SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat von Beginn auf das Thema Gerechtigkeit gesetzt – offenbar die falsche Strategie.

    Parteien- und Extremismusforscher Dr. Eckhard Jesse.
    Parteien- und Extremismusforscher Dr. Eckhard Jesse. © privat | privat

    Jesse: Klar, das war die falsche Strategie. Den Deutschen geht es wirtschaftlich gesehen gut. Es sind andere Themen, die die Bürger bewegen. Schulz hat nicht verstanden, authentisch und glaubwürdig zu sein. Er hat sich den Wählern geradezu angebiedert. Er hat versucht, sich als Repräsentant des kleinen Mannes darzustellen. Das kommt bei den sogenannten kleinen Leuten überhaupt nicht gut an. Martin Schulz hat einen kläglichen Wahlkampf geboten. Er hat mehr Fehler gemacht als Frank-Walter Steinmeier 2009 und Peer Steinbrück 2013. Schulz ist weg vom Fenster, übrigens auch Sigmar Gabriel.

    Die AfD ist im Bundestag. Ist das eine Zäsur in der deutschen Geschichte?

    Jesse: In gewisser Weise ja, weil die AfD zum ersten Mal in den Bundestag einzieht. Gleichzeitig muss man aus europäischer Sicht sagen, dass hier eine Normalisierung des Parteiensystems stattfindet. Was nun in Deutschland geschieht, dass also eine rechtspopulistische Partei ins nationale Parlament kommt, hat es in anderen europäischen Staaten längst gegeben. Deutschland war bisher eine Ausnahme.

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      Gehört die Partei nun zum festen politischen Spektrum?

      Jesse: Das muss nicht der Fall sein. Die AfD ist jetzt über Protestwähler stark geworden, und das kann in vier Jahren schon ganz anders aussehen. Es gibt jedenfalls kein Stammwählerpotenzial der AfD. Viel von ihrer Zukunft hängt davon ab, wie sie im Bundestag auftritt: Ob sie Fundamentalopposition ist oder vernünftige Politik macht. Die Partei ist sehr heterogen, es wird möglicherweise viel internen Streit geben.

      Was ändert sich im Bundestag, wenn die AfD größte Oppositionspartei wird?

      Jesse: Ich hoffe, das Klima wird nicht allzu rau. Es wird sicherlich hoch hergehen, die AfD wird anfangs wahrscheinlich gar nicht laufen können vor Kraft.

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      Die Alternative für Deutschland (AfD) ist eine der Gewinnerinnen der Bundestagswahl. Spitzenkandidat Alexander Gauland ist dementsprechend gut gelaunt.
      Die Alternative für Deutschland (AfD) ist eine der Gewinnerinnen der Bundestagswahl. Spitzenkandidat Alexander Gauland ist dementsprechend gut gelaunt. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
      Auch Beatrix von Storch, stellvertende Parteisprecherin der AfD, strahlt. Die Partei zieht erstmals in den Bundestag ein - und dann gleich als drittstärkste Kraft.
      Auch Beatrix von Storch, stellvertende Parteisprecherin der AfD, strahlt. Die Partei zieht erstmals in den Bundestag ein - und dann gleich als drittstärkste Kraft. © dpa | Bernd Von Jutrczenka
      Ausgelassene Stimmung auf der Wahlparty der AfD.
      Ausgelassene Stimmung auf der Wahlparty der AfD. © dpa | Bernd Von Jutrczenka
      Auf der Wahlparty der SPD sorgt die erste Prognose dagegen für lange Gesichter. Die Partei stürzt auf ein Rekordtief.
      Auf der Wahlparty der SPD sorgt die erste Prognose dagegen für lange Gesichter. Die Partei stürzt auf ein Rekordtief. © dpa | Christian Charisius
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      Auch diese Gäste der Wahlparty der SPD reagieren enttäuscht und müssen erst einmal durchatmen. © dpa | Wolfgang Kumm
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      „Keine GROKO mehr“: Nicht nur dieser SPD-Anhänger sondern auch das Spitzenpersonal der Partei erklärt die Große Koalition aus Union und SPD für beendet. © dpa | Christian Charisius
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      SPD-Spitzenkandidat Martin sprach vor den Anhängern von einem bitteren Tag für die Sozialdemokratie. © REUTERS | MICHAEL DALDER
      Anhänger der Union jubeln. Aber ganz zufrieden können die Christdemokraten nicht sein. Sie werden zwar die größte Fraktion stellen, haben aber dramatisch an Wählerstimmen verloren.
      Anhänger der Union jubeln. Aber ganz zufrieden können die Christdemokraten nicht sein. Sie werden zwar die größte Fraktion stellen, haben aber dramatisch an Wählerstimmen verloren. © REUTERS | KAI PFAFFENBACH
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      Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in ihrer ersten Reaktion: „Wir haben einen Auftrag, eine Regierung zu bilden. Und gegen uns kann keine Regierung gebildet werden.“ © REUTERS | KAI PFAFFENBACH
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      Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer erlebte ein Desater. Die Partei fuhr das vorraussichtlich schlechteste Bundestagswahlergebnis seit 1949 ein. © REUTERS | Michaela Rehle
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      Katja Kipping, Bundesvorsitzende der Partei Die Linke, freut sich mit Parteianhängern. © dpa | Britta Pedersen
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      Auch die Gäste der Wahlparty von Bündnis 90/Die Grünen sind mit dem Abschneiden ihrer Partei zufrieden. © dpa | Soeren Stache
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      Die Spitzenkandidaten der Partei, Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, sind sichtlich erleichtert. © dpa | Ralf Hirschberger
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      Die Anhänger der FDP freuen sich darüber, dass der Partei nach vier Jahren die Rückkehr in den Bundestag gelingt. © REUTERS | RALPH ORLOWSKI
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      Christian Lindner, Bundesvorsitzender und Spitzenkandidat der FDP, wird im Hans-Dietrich-Genscher-Haus in Berlin frenetisch bejubelt. © dpa | Federico Gambarini
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