Berlin. Häuserwahlkampf per App, Fake News, maßgeschneiderte Werbung: Das Netz bestimmte den Wahlkampf 2017. Zwei Experten ziehen eine Bilanz.

Wenn es ums Geld geht, und das tut es in der Politik ja oft, steht der Online-Wahlkampf 2017 bei den Parteien so hoch im Kurs wie nie. „Mit Blick auf die Ausgaben der Parteien für digitale Kampagnen war dies der erste richtige Online-Wahlkampf“, sagt der Politikberater Johannes Hillje.

Die Parteien pumpten Geld ins Netz wie in keinem Wahlkampf vorher. Die Linken teilten auf Anfrage unserer Redaktion mit, dass ihr Online-Etat bei 450.000 Euro lag (Gesamtetat 6,5 Millionen Euro) die FDP investierte sogar eine halbe Million Euro.

Die Grünen steckten mehr als ein Drittel in den Online-Wahlkampf: Zwei Millionen Euro von 5,5 Millionen Euro Budget. Die SPD bestätigt auf Anfrage unserer Redaktion, dass die Sozialdemokraten so viel Geld wie nie für digitale Projekte aufbrachten. Einzig Union und AfD hüllten sich in Schweigen und wollten keine Auskünfte zu ihrem Digital-Budget geben.

Fünf Aspekte, die den Digital-Wahlkampf prägten

Die Digitalisierung rührt an alten Gewissheiten des Wahlkampfs. Neue Technologien ermöglichen Strategien, von denen Wahlkampfmanager vor wenigen Jahren wohl nur träumten. Einige bergen das Potenzial, den Kampf um Wählerstimmen auf Dauer und grundlegend zu verändern.

Was aber waren die markantesten Punkte des netz- und technologiegetriebenen Wahlkampfs 2017? Zwei Politikberater mit Schwerpunkt Internet werfen einen Blick auf die vergangenen Monate. Sie greifen dabei fünf Aspekte heraus, die ihrer Meinung prägend für den Wahlkampf waren, und wagen einen Blick in die Zukunft. Schöne neue Wahlkampf-Welt oder Horrorszenario?

1. Häuserwahlkampf mit „Killer-App“

Für den Politikberater Martin Fuchs kommt die größte Innovation von der Union: „Sie hat den klassischen Häuserwahlkampf digitalisiert.“ Das Programm, das Fuchs als „Killer-Applikation“ des Straßenwahlkampfs bezeichnet, nannten die Christdemokraten schlicht „Connect17“. Diese App führte die Wahlkämpfer wie ein Navigationssystem ganz gezielt zu Wohnadressen von Bürgern, die mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 60 Prozent die CDU/CSU wählen.

Grundlage dafür sind frei verfügbare Daten zum früheren Wahlverhalten sowie soziodemografische Daten wie zum Beispiel Alter und Einkommen. Das Kalkül: Zweifelnden CDU-Sympathisanten die Zweifel nehmen – und Nicht-Wähler zum Wählen bringen. Und zwar zum Wählen der Union.

Mit der Connect17-App hat die Union den Häuserwahlkampf digitalisiert.
Mit der Connect17-App hat die Union den Häuserwahlkampf digitalisiert. © Screenshot FMG / www.connect17.de

Zwar ist der Häuserwahlkampf in Deutschland bei weitem nicht so verbreitet wie in den USA; nur 9 Prozent der Befragten einer YouGov-Studie gaben an, schon mit einem Wahlkämpfer an der Haustür in Kontakt gestanden zu haben. Doch zeigen Untersuchungen, dass genau diese direkten Gespräche Wähler besonders mobilisieren. Auch für Johannes Hillje ist die App die entscheidende Neuerung des Digitalwahlkampfs. „Ein ganz altmodisches Instrument wird durch die Verknüpfung mit Datenanalysen enorm effizient gemacht“, so der Politikberater. Zwar setzten auch die anderen Parteien auf ähnliche Werkzeuge, doch sei die App der Union am ausgefeiltesten.

Erstmals hatten US-Wahlstrategen diese Methode im Obama-Wahlkampf flächendeckend eingesetzt. Auch Emmanuel Macron in Frankreich setzte auf die gezielte Wähleransprache. Experte Hillje: „In Deutschland ist der Einsatz neu. Und die Wahlen in NRW und im Saarland, bei denen intensiv dieser datenbasierte Häuserwahlkampf betrieben wurde, deuten an, dass das Kalkül aufgeht.“ Denn: Die CDU konnte dort vor allem vormalige Nicht-Wähler mobilisieren. Die CDU-Zentrale teilte unserer Redaktion mit, dass fast 9000 ehrenamtliche Wahlkämpfer die App bislang nutzten – sie klingelten an 700.000 Haustüren.

2. Der erste Social-Media-Spitzenkandidat

Die Währung des Internets ist Aufmerksamkeit. Davon bekam FDP-Chef Christian Lindner eine ganze Menge. Zwar schüttete das Netz auch viel Häme über Lindners One-Man-Show aus („Alle 11 Minuten verliebt sich ein Liberaler in sich selbst“). Doch brachte er sich laut Fuchs und Hillje immer wieder geschickt ins Spiel. „Lindner hat das Netz von allen Kandidaten am besten verstanden. Die FDP hat nicht nur einen Schwerpunkt auf Digitalisierung gesetzt, sondern ihren Kandidaten auch perfekt in Szene gesetzt. Er ist sozusagen der erste Social-Media-Spitzenkandidat“, diagnostiziert Fuchs.

Johannes Hillje unterstreicht das. „Lindner war am sichtbarsten. Er schaltete nach fast jeder Veranstaltung seine Handykamera ein und streamte sich live im Netz.“ Das hält er für die zeitgemäße Strategie: „Das effektivste Instrument ist der direkte, authentische Kontakt. Die Menschen wollen Menschen sehen und keine Maschinen.“

FDP-Spitzenkandidat schaltete sie wie kein anderer Kandidat immer wieder persönlich ein.
FDP-Spitzenkandidat schaltete sie wie kein anderer Kandidat immer wieder persönlich ein. © imago/Rene Traut | Rene Traut/Hotspot-Foto

Ins Bild passt, dass die FDP ihre Anhängerschaft auf Facebook seit Ende Januar mehr als verdoppelt hat (von 59.0000 Likes auf 124.000 Likes). Auch wenn die AfD nach wie vor mit Abstand die Partei mit den meisten Facebook-Anhängern ist (mehr als 367.000 Likes), hat kein anderer politischer Facebook-Auftritt auch nur annähernd so viele neue Fans während des Wahlkampfs hinzugewonnen wie die FDP. Lindner setzte nicht nur eigene Akzente, sondern reagierte auch souverän auf virale Trends um seine Person. War Lindner bei Twitter ein Thema, schaltete er sich nicht selten persönlich ein. Und er bewies dabei Souveränität: Als beispielsweise ein uraltes Video in den sozialen Netzwerken hochkochte, in dem ein jugendlicher Christian Lindner mit markigen Sätzen über seine junge Unternehmer-Karriere spricht („Probleme sind dornige Chancen“), griff der Kandidat den Hype selbst auf. „Das war 1997 Gründerkultur 1.0“, schrieb er auf Twitter und setzte einen Smiley hinterher.

3. Ende des Hypes: Der tiefe Fall des Martin Schulz

Im Gegensatz zu Lindner ist Schulz in der Offline-Welt zu Hause, urteilen die Experten. Den Aufstieg und Fall des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz dokumentieren nicht nur die Umfragen der Meinungsforscher, sondern auch Netz-Hypes um seine Person. Kurz nach seiner offiziellen Nominierung Ende Januar wirbelten ungezählte Tweets mit dem Hashtag #Gottkanzler und #SchulzFacts durch die Social-Media-Kanäle. Darin dichteten die Nutzer dem neuen SPD-Star humorvoll sogar übermenschliche Fähigkeiten an („Wenn Martin Schulz ins Wasser springt, wird er nicht nass. Das Wasser wird sozialdemokratisch.“)

Aber: Die SPD ließ die Gelegenheit verstreichen, den Hype für sich zu nutzen. Hier hätte die Partei den digitalen Personenkult noch weitaus besser für ihre Zwecke nutzen können, bemängelt Martin Fuchs.

Der SPD-Kanzlerkandidat und Martin Schulz im „YouTube Space Berlin“ nach einem Interview.
Der SPD-Kanzlerkandidat und Martin Schulz im „YouTube Space Berlin“ nach einem Interview. © dpa | Kay Nietfeld

Ungenutzte Chancen zogen sich auch später durch den Wahlkampf der Sozialdemokraten: „Während der Landtagswahlkämpfe in Schleswig-Holstein und NRW haben die Strategen zu lange die Füße stillgehalten“, urteilt Fuchs. In dieser Phase warfen Parteienforscher Schulz vor, dass er im Gegensatz zu Merkel wenig präsent und sichtbar gewesen sei. Auch in den sozialen Netzwerken sei Schulz zu wenig präsent gewesen, sagt der Hamburger Politikberater. „Hier hätte die Partei viel aggressiver auch das Netz bespielen müssen.“ Eine verpasste Chance.

4. Die Angst vor Fake News

Politiker wie Wahlforscher hatten früh vor einem Wahlkampf gewarnt, in dem Hass, Häme und hetzerische Fake-News jede sachliche Debatte übertönen würden. Neben dem gezielten Einsatz gefälschter Nachrichten sollten vor allem sogenannte Social Bots eine Gefahr darstellen. Das sind automatisierte Accounts bei Facebook und vor allem Twitter, die massenhaft politische Botschaften verbreiten – und dadurch die Meinungsbildung beeinflussen sollen.

„Die ganze Diskussion darum war sehr hysterisch“, resümiert jetzt Martin Fuchs. Er sieht die Wurzeln der aufgeregten Debatte im US-Wahlkampf: „Nach dem Schock über die Wahl von Donald Trump suchte man nach einfachen Erklärungsansätzen und da bot das Internet eine gute Projektionsfläche. Dass die Wahl Trumps aber auch inhaltliche Gründe hat, wollten viele nicht sehen.“

Johannes Hillje schätzt die Gefahr durch gefälschte Nachrichten größer ein: Fake News hätten im deutschen Wahlkampf sehr wohl eine Rolle gespielt, wenn auch nicht eine so große wie in den USA. Und das habe seine Gründe. „Alle Parteien hatten bereits im Vorfeld Abteilungen aufgebaut, um auf gefälschte Nachrichten zu reagieren. Die Vorbereitung hat sich also gelohnt“, lobt Hillje. Dennoch gebe es im Netz zahlreiche blinde Flecken: „Geschlossene Facebook-Gruppen oder Gruppen-Chats von Messenger-Diensten wie WhatsApp sind für Außenstehende nicht zugänglich.“

Die Befürchtung: Auch wenn sich die große Angst vor Fake News bei Facebook zumindest auf den ersten Blick nicht bewahrheitet hat, dürfte es unter der Oberfläche gefährlich brodeln.

5. Maßgeschneiderte Botschaften auf Facebook

So gezielt wie in diesem Wahlkampf hatten die Parteien ihre Wähler nie zuvor angesprochen. In sozialen Netzwerken gehört sogenanntes Microtargeting inzwischen zu den Standardwerkzeugen der Wahlstrategen: Was in sein Weltbild eines Wählers passt, das bekommt er geliefert.

Auf Facebook warb die CSU mit eigenen Anzeigen um die Stimmen von Russlanddeutschen.
Auf Facebook warb die CSU mit eigenen Anzeigen um die Stimmen von Russlanddeutschen. © Screenshot Facebook Berliner Osteuropa-Experten

Auf Facebook schaltete die CSU zum Beispiel maßgeschneiderte Anzeigen für Nutzer, denen der Propagandasender Russia Today (RT) gefällt. Und plötzlich sprachen die bayerischen Christsozialen Russisch: „Wir wollen keine Republik, in der linke Kräfte und Multikulturalismus die Vorherrschaft haben“, stand in kyrillischer Schrift auf einer Anzeige mit dem Portät von CSU-Chef Horst Seehofer. Johannes Hillje, als ehemaliger Wahlkampf-Manager der Europäischen Grünen ohnehin kein CSU-Sympathisant, sieht diese gezielte Ansprache skeptisch: „Während traditionelle Wahlwerbung wie Plakate oder TV-Werbespots immer transparent und für alle sichtbar sind, können Parteien nun maßgeschneidert unterschiedliche Aussagen für verschiedene Wähler machen.“ Das lade zu demokratieschädlichen Aussagen ein, weil sie von der breiten Öffentlichkeit weniger wahrgenommen würden.

Die Zukunft: Wahlkampf als 24/7-Live-Spektakel und YouTube?

YouTube, datenbasierter Häuserwahlkampf, Live-Streams der Kandidaten – einige Trends des Wahlkampfs 2017 könnten den Weg in die Zukunft des Wahlkampfs weisen. Netz-Formate wie etwa die YouTube-Interviews von Martin Schulz und Angela Merkel dürften laut dem Experten Fuchs künftig eine größere Rolle spielen. „Man kann damit rechnen, dass immer kleinere Zielgruppen auf immer mehr Kanälen angesprochen werden“, so Fuchs. Passgenaue Wähleransprache per Internet.

Auch Johannes Hillje geht davon aus, dass Daten von Wählern den Parteien künftig noch größere Vorteile verschaffen könnten als ohnehin schon: „Parteien haben in Zukunft noch stärker einen Vorteil durch Informations-Vorsprung. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Daten, die die CDU über ihre Wähler mittels des digitalen Häuserwahlkampfs gewonnen hat.“ Und das könnte der Merkel-CDU zusätzlichen Auftrieb verleihen.

Doch mit dem smarten Digital-Wahlkampf würden auch Szenarien denkbar, die große Risiken bergen, betont Johannes Hillje. Die Gefahr: Parteien können durch maßgeschneiderte Botschaften wie jene der CSU an die AfD-Wähler widersprüchliche Aussagen treffen, um Wähler einzufangen, ohne dass es groß auffällt. Ein anderes Szenario, das Hillje entwirft: Eine rechtspopulistische Partei wie die AfD könnte noch gezielter mit den Ängsten von Menschen spielen. Zum Beispiel, indem sie vor allem in jenen Gebieten Online-Anzeigen schaltet, in denen Medien von sexuellen Übergriffen von Frauen durch Flüchtlinge berichteten. „Hier stellt sich die Frage, ob wir für die Zukunft neue Regeln für diesen neuen digitalen Wahlkampf brauchen“, sagt Hillje.