Istanbul. In Istanbul beginnt nun das Verfahren gegen Journalisten und Verlagsmanager der Zeitung „Cumhuriyet“. Sie befürchten Schlimmes.

„Auf uns kommt ein schreckliches Unheil zu“, ahnt Ahmet Sik. Seit dem 29. Dezember vergangenen Jahres sitzt der türkische Journalist in Untersuchungshaft. An diesem Montag steht er in Istanbul vor Gericht. Sik ist einer von 17 Mitarbeitern und Verlagsmanagern der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, denen jetzt der Prozess gemacht wird.

Ihnen werden Verbindungen zu „Terrororganisationen“ wie der kurdischen PKK, der linksextremistischen DHKP/C und der Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den Staatschef Recep Tayyip Erdogan für den Drahtzieher des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 hält.

Ist die türkische Justiz noch unabhängig?

Das Verfahren gilt als Prüfstein für die Unabhängigkeit der türkischen Justiz. Die Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul umfasst 247 Seiten. Sie wirft den Beschuldigten vor, sie hätten Propaganda für den Erdogan-Erzfeind Fethullah Gülen betrieben, einen „asymmetrischen Krieg“ gegen die Regierung geführt, Unruhen provoziert und auf einen Umsturz hingearbeitet. Für die angeklagten Journalisten fordert Staatsanwältin Yasemin Baba bis zu 29 Jahre, für die Verlagsmanager bis zu 43 Jahre Haft. Die Angeklagten bestreiten die Vorwürfe. Sie fühlen sich als „politische Geiseln“, sagt Ahmet Siks Ehefrau Yonka.

Die Anklage gegen Sik wirkt besonders bizarr. Der bekannteste Investigativjournalist der Türkei saß schon 2011 im Gefängnis, weil er die Machenschaften Gülens zur Unterwanderung des Staatsapparates aufgedeckt hatte – Gülen war damals noch ein Erdogan-Verbündeter. Jetzt wird ausgerechnet Sik vorgeworfen, er habe die Gülen-Bewegung unterstützt.

Verfahren ist einer von mehreren Schauprozessen

Einer der Beschuldigten wird nicht auf der Anklagebank sitzen: Can Dündar, der frühere „Cumhuriyet“-Chefredakteur. Dündar stand bereits im März 2016 vor Gericht. Die Anklage lautete damals auf Spionage. Er hatte Dokumente über angebliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien veröffentlicht. Nachdem das türkische Verfassungsgericht zur Empörung Erdogans die Untersuchungshaft für Dündar aufhob, konnte der Journalist im Juli 2016 nach Deutschland fliehen. Er lebt jetzt in Berlin. In der Türkei ist er zur Fahndung ausgeschrieben.

Erdogan persönlich hatte Dündar angezeigt, damit zum Staatsfeind erklärt und bereits verurteilt: Der Journalist müsse „einen hohen Preis“ bezahlen, lautete Erdogans Vorgabe für die Richter. Dündar glaubt übrigens nicht, dass sich Erdogan durch die Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik beeindrucken lässt. „Erdogan kümmert sich nicht mehr um Reaktionen von westlicher Seite“, sagte Dündar vergangene Woche.

Erdogan ließ 149 Medien schließen und 274 Journalisten festnehmen

Vor dem Hintergrund der jüngsten Eskalation in den deutsch-türkischen Beziehungen wird der „Cumhuriyet“-Prozess besonders aufmerksam verfolgt. Die Zeitung stehe „symbolisch für den mutigen Einsatz der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien in der Türkei“, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen. „Eine Verurteilung wäre ein verheerendes Signal und eine Schande für die türkische Justiz“, meint Mihr.

Dass es überhaupt zu den Festnahmen der Redakteure und Verlagsmanager sowie zur Anklage kam, wirft ein grelles Schlaglicht auf den desolaten Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit sowie auf die schwierige Situation der politischen Gefangenen in der Türkei. Seit dem Putschversuch vor einem Jahr ließ Erdogan per Dekret 149 Medien schließen und 274 Journalisten festnehmen.

Davon sitzen aktuell nach Angaben der Organisation P24, einer Plattform für unabhängigen Journalismus, 165 in Haft – mehr als in jedem anderen Land der Erde. Unter ihnen sind der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel und die deutsch-türkische Übersetzerin Mesale Tolu Corlu. Seit vergangenem Dienstag sitzt auch der deutsche Menschenrechtler und Dokumentarfilmer Peter Steudtner wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.

Staatsanwältin fordert bis zu 15 Jahre Haft

Wie bei Steudtner wirken auch in vielen anderen Fällen die Anschuldigungen an den Haaren herbeigezogen. So geriet die Zeitung „Sözcü“ ins Visier der Behörden, weil sie kurz vor dem Putschversuch einen Bericht über Erdogans Urlaubsort veröffentlichte. Der Präsident machte Ferien in Marmaris. In der Putschnacht versuchten Soldaten, das Hotel zu stürmen.

Erdogan war jedoch rechtzeitig geflohen und befand sich bereits auf dem Rückflug nach Istanbul. Jetzt sind die „Sözcü“-Redakteure Mediha Olgun und Gökmen Ulu wegen „versuchten Präsidentenmordes“ angeklagt. Sie sitzen seit Ende Mai in Untersuchungshaft.

76-Jähriger nach Freilassung erneut angeklagt

Zu den Angeklagten im „Cumhuriyet“-Prozess gehört auch der Kolumnist und frühere Interims-Chefredakteur Aydin Engin. Der 76-Jährige war Ende Oktober 2016 verhaftet worden, kam aber kurz darauf aus Altersgründen wieder auf freien Fuß. Staatsanwältin Baba fordert für Engin bis zu 15 Jahre Haft.

Der angesehene Theaterautor, Regisseur und Journalist wurde, wie jetzt unter Erdogan, bereits unter der Militärdiktatur 1980 bis 1983 verfolgt. Er suchte damals Zuflucht in Frankfurt, wo er sich anfangs als Taxifahrer durchschlug und später als Stückeschreiber zu einiger Berühmtheit gelangte.

Orhan Pamuk: Türkei entwickelt sich zu „Terrorregime“

Ein Plakat mit den Gesichtern der inhaftierten „Cumhuriyet“-Mitarbeiter hängt am 12.07.2017 am Gebäude der regierungskritischen türkischen Zeitung.
Ein Plakat mit den Gesichtern der inhaftierten „Cumhuriyet“-Mitarbeiter hängt am 12.07.2017 am Gebäude der regierungskritischen türkischen Zeitung. © picture alliance / Mirjam Schmit | dpa Picture-Alliance / Mirjam Schmitt

Das „Cumhuriyet“-Verfahren ist einer von mehreren Schauprozessen, mit denen Regierungskritiker in der Türkei eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht werden sollen. Am 20. Juni begann in Istanbul ein Strafverfahren gegen 17 Journalisten und Intellektuelle. Auch ihnen werden Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Zu den Angeklagten gehören der international bekannte Journalist Ahmet Altan und sein Bruder, der Wirtschaftsprofessor und Buchautor Mehmet Altan.

Der Vorwurf: Die Altan-Brüder sollen in einer TV-Talkshow am Abend vor dem versuchten Coup „unterschwellige Botschaften“ an die Putschisten gesendet haben. Sie sitzen seit zehn Monaten in Untersuchungshaft. Der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk hatte die Festnahme der Altan-Brüder im vergangenen September scharf verurteilt und gewarnt, die Türkei entwickele sich zu einem „Terrorregime“.

„Ich bin eine Gegnerin von Tayyip Erdogan – ist das ein Verbrechen?“

Mit auf der Anklagebank sitzt auch die Moderatorin der Sendung, die 72-jährige Journalistin Nazli Ilicak. Sie arbeitete bis 2013 für die regierungsnahe Zeitung „Sabah“. Wegen regierungskritischer Artikel im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre Ende 2013 trennte sich die Zeitung von ihr. Die Journalistin kommentierte damals: „Statt meiner Persönlichkeit habe ich meinen Job verloren.

“ Zum Prozessbeginn sagte Ilicak vor Gericht: „Ich bin über 70 Jahre alt und habe mein Leben lang keine Verbindungen zu religiösen, noch weniger zu einer terroristischen Gruppe unterhalten.“ An die Richter gewandt fragte sie: „Warum sollte ich wollen, dass Fethullah Gülen die Macht in der Türkei übernimmt? Ich verdanke meine ganze Identität der säkularen Republik.“ Sie bekannte: „Ich bin eine Gegnerin von Tayyip Erdogan – ist das ein Verbrechen?“ Der Prozess soll am 19. September fortgesetzt werden. Die Angeklagten bleiben in Untersuchungshaft. Bei einem Schuldspruch droht lebenslange Haft.

Zeitung erhielt alternativen Nobelpreis

In der Anklageschrift gegen die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter wird die Zeitung als eine Art Zentralorgan der Gülen-Bewegung hingestellt – ein absurder Vorwurf, denn das Blatt war seit jeher ein Sprachrohr der Kemalisten. Die sozialdemokratisch-national ausgerichtete „Cumhuriyet“ ist die älteste Tageszeitung der modernen Türkei. Das 1924 gegründete Blatt geht auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurück und verteidigt dessen Prinzipien. Dazu gehört vor allem die Trennung von Staat und Religion.

Im September 2016 wurde das Blatt mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. „Cumhuriyet“ beweise, „dass die Stimme der Demokratie nicht zum Schweigen gebracht werden kann“, hieß es zur Begründung – eine Einschätzung, die inzwischen sehr optimistisch erscheint. Wie auch die Hoffnung, die Ex-Chefredakteur Sabuncu im April gegenüber Besuchern in der Untersuchungshaft äußerte: „Früher oder später wird der freie Journalismus gewinnen.“ In der Türkei wohl eher später als früher. In den 15 Erdogan-Jahren ist das Land in der Rangliste der Pressefreiheit um 57 Plätze auf Rang 155 von 180 Staaten abgestürzt.