Berlin. Der türkische Präsident weist die Verschärfung des Kurses durch die Bundesregierung zurück: „Deutschland muss sich zusammenreißen“.

Nach der neuesten Eskalation in den deutsch-türkischen Beziehungen kursiert in europäischen Hauptstädten ein Albtraumszenario: Kündigt der für seine cholerischen Anfälle bekannte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nun den Flüchtlingsdeal mit der EU? Besteht die Gefahr, dass ein Großteil der in der Türkei gestrandeten rund drei Millionen Migranten nach Europa strömt? Kommt auf Deutschland eine Wiederauflage der Flüchtlingskrise zu – wenige Wochen vor der Bundestagswahl am 24. September?

Es wäre nicht das erste Mal, dass Erdogan die Drohung als politische Waffe einsetzt. „Hören Sie mir zu. Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das“, giftete der Präsident noch im vergangenen November Richtung Brüssel. Kurz zuvor hatte das EU-Parlament ein „vorläufiges Einfrieren“ der Gespräche über den Beitritt der Türkei in die Gemeinschaft gefordert.

Es begründete den Schritt mit den „unverhältnismäßigigen Repressionen“, die seit dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli in der Türkei gegen Regierungsgegner ergriffen worden seien. Außenminister Mevlüt Cavusoglu warnte unverhohlen: Wenn die EU den Türken nicht die Visumfreiheit gewähre, sei das Flüchtlingsabkommen passé.

Das sind die Streitpunkte im deutsch-türkischen Verhältnis

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    Von Terrorvorwürfen gegen deutsche Unternehmen will Erdogan nichts wissen

    Zuzutrauen wäre es also Erdogan, die Flüchtlingsfrage erneut als Druckmittel zu benutzen. Zunächst wies der Präsident am Freitag die Vorwürfe der Bundesregierung wegen der Inhaftierung deutscher Staatsbürger zurück. Gleichzeitig sicherte er Investoren Schutz zu. Zur Kritik von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, der von Investitionen in der Türkei abgeraten hatte, sagte Erdogan: „Deutschland muss sich zusammenreißen. Mit solchen Drohungen kann es uns niemals Angst machen.“

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      Im Zusammenhang mit Forderungen der Bundesregierung nach einer Freilassung deutscher Gefangener wie Deniz Yücel, Mesale Tolu Corlu oder Peter Steudtner aus der Untersuchungshaft sagte Erdogan: „Sie müssen wissen, dass unsere Justiz unabhängiger ist als Ihre.“ Der Präsident warf Deutschland erneut vor, Terroristen Unterschlupf zu gewähren.

      Erdogan wehrt sich gegen Berichte über schwarze Listen mit deutschen Unternehmen

      Berichte, wonach im Zuge von Terrorvorwürfen gegen deutsche Unternehmen ermittelt werde, wies Erdogan als „böse Propaganda“ zurück. Dagegen hat die Türkei Insidern zufolge entgegen ihrer Beteuerung deutlich mehr deutsche Firmen auf ihrer schwarzen Liste als bekannt. Insgesamt führe die Türkei 681 Unternehmen auf, die sie verdächtige, terroristische Organisationen zu unterstützen, erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Freitag aus deutschen Sicherheitskreisen. Bislang war in einem „Zeit“-Bericht von 68 Unternehmen und Personen die Rede.

      Vor dem Hintergrund der deutsch-türkischen Konfrontation stellt sich die Frage, ob Erdogan die Krise weiter anheizt und den Flüchtlingspakt mit der EU aufkündigt. Im März 2016 war vereinbart worden, dass Griechenland Flüchtlinge zurückschicken kann, die illegal aus der Türkei eingereist sind. Im Gegenzug können syrische Migranten legal in die EU einreisen.

      EU sieht sich auch ohne Flüchtlingsabkommen gerüstet

      Aus Deutschland wurden die ersten Forderungen laut, das Abkommen platzen zu lassen. Der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, sagte: „Erdogan meint, er könne uns nach Lust und Laune erpressen. Wenn wir aus seinen Fängen entkommen wollen, müssen wir den Flüchtlingspakt aufkündigen.“ In der Flüchtlingsfrage wird sich die Europäische Union nach den Worten des EU-Erweiterungskommissars Johannes Hahn nicht unter Druck setzen lassen.

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        Die EU sei beim Thema Flüchtlinge weit weniger abhängig von der Türkei als noch vor zwei Jahren. „Wir hatten 2015 eine Situation, in der Migranten weitgehend unkontrolliert in die EU gelangt sind. Inzwischen ist die Lage aber eine ganz andere“, erklärte Hahn. Durch die Schließung der Westbalkanroute, die Kontrollen in der Ägäis und die Unterstützung der syrischen Flüchtlinge in der Türkei sei das Risiko gering, dass sich Zehntausende aus der Türkei nach Europa aufmachten, sollte Ankara die Grenzen öffnen.

        Der türkische Außenminister reist am Dienstag nach Brüssel

        Offenbar will Ankara aber vermeiden, dass die Krise im deutsch-türkischen Verhältnis auf die europäische Ebene überschwappt. So reisen Außenminister Cavusoglu und EU-Minister Ömer Celik am kommenden Dienstag zu politischen Gesprächen nach Brüssel. Wie die Vertretung der Türkei bei der EU am Freitag mitteilte, werden die Regierungspolitiker die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn treffen. Thema der Gespräche sollten unter anderem die EU-Beitrittsverhandlungen, die geplante Visa-Liberalisierung sowie die Zusammenarbeit in Bereichen wie Handel und Terrorbekämpfung sein.

        Die Bundesregierung lässt sich einstweilen nicht von Entspannungssignalen aus der Türkei beeindrucken. Im Gegenteil: Sie schließt nicht aus, die Daumenschrauben anzuziehen. „Wir werden zu jedem Zeitpunkt prüfen, ob weitere Beschlüsse notwendig sind. Und die werden wir dann gegebenenfalls auch öffentlich verkünden“, unterstrich Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU).

        Angesichts der Inhaftierung von Menschenrechtlern und Journalisten zog Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) einen Vergleich mit der DDR. „Die Türkei verhaftet inzwischen willkürlich und hält konsularische Mindeststandards nicht ein. Das erinnert mich daran, wie es früher in der DDR war“, sagte Schäuble. „Wer dort gereist ist, dem war klar: Wenn Dir jetzt etwas passiert, kann dir keiner helfen.“ Inzwischen sei die Türkei auch für deutsche Touristen zum Risikoland geworden, so Schäuble.

        Auch von den deutschen Geheimdiensten kam scharfe Kritik. „Wir betrachten die Türkei spätestens seit dem Putschversuch im vergangenen Sommer und den Veränderungen der türkischen Innenpolitik als Nachrichtendienst nicht nur als Partner, sondern mit Blick auf Einflussoperationen in Deutschland auch als Gegner“, sagte Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Es gebe zahlreiche Einflussnahmen auf die türkischstämmige Gemeinschaft in Deutschland. „Das erfüllt uns mit Sorge“, betonte Maaßen.