Berlin. Die Regierung hat eine Neuausrichtung der Türkei-Politik verkündet. Für Erdogan wird es gefährlich, wenn zwei Faktoren zusammenkommen.

Man wäre gern dabei gewesen, als Recep Tayyip Erdogan die Nachricht überbracht wurde, dass die Bundesregierung Reisehinweise verschärft und sich vorbehält, nicht länger für Investitionen in der Türkei zu bürgen. Wenn das öffentliche Bild vom Präsidenten zutrifft, gehört er zu den Männern, die stärkere Reize brauchen.

In Berlin mögen sie die Türkeipolitik neu ausrichten. Das heißt nicht, dass der Präsident bald den Journalisten Deniz Yücel oder den Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner freilassen wird. Erdogan agiert, Kanzlerin Angela Merkel reagiert – an diesem Handlungsmuster wird sich so schnell nichts ändern.

Gabriels Worte waren angemessen – und steigerungsfähig

Gemessen an den Erwartungen fiel die Stellungnahme von Außenminister Sigmar Gabriel eher moderat und ausgewogen aus, kurzum: angemessen und steigerungsfähig. Wenn die türkische Regierung sie nüchtern analysiert, wird ihr gleichwohl die Botschaft nicht entgangen sein: Wir halten nicht mehr die andere Wange hin. Um es mit Gabriels Worten zu sagen: It takes two to tango. Zu einer Zusammenarbeit gehören immer zwei.

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    Im Grunde war der Kurswechsel bereits Ende Juni erfolgt, als der Außenminister Auftritte türkischer Politiker in Deutschland ablehnte. Noch im Frühjahr hatte die Regierung solche Verbote bloß formaljuristisch gerechtfertigt, damals zumeist mit dem Ordnungsrecht.

    Auch der Wahlkampf war bei der Entscheidung zu spüren

    Dass Gabriel am Donnerstag penetrant wiederholte, wie eng SPD-Chef Martin Schulz in die Kursbestimmung eingebunden war, ist dem Wahlkampf geschuldet. Merkels Herausforderer soll wie der Taktgeber aussehen, wenn die Regierung aktiv wird. Erdogan weiß auch, dass in Deutschland eine Wahl ansteht; und kann sich ausrechnen, dass er bis zum 24. September außer starken Worten nichts zu befürchten hat.

    Für die Türkei wird es erst dann gefährlich, wenn zwei Faktoren zusammenkommen: Wirtschaftssanktionen und eine abgestimmte europäische Antwort auf die Verletzung von rechtsstaatlichen Prinzipien wie bei der Verhaftung von Menschenrechtlern.

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      Merkel steht vor den Trümmern ihrer Türkeipolitik. Als es noch eine echte EU-Beitrittsperspektive gab, hat sie den Türken die Türen zugeschlagen, zunächst als Oppositionsführerin, ab 2005 als Kanzlerin. Ihr Gegenentwurf hieß privilegierte Partnerschaft und ist gescheitert. Die Partnerschaft fühlte sich nie anders an als eine unbehagliche Nähe. Übrig geblieben ist das Unbehagen, während das Thema Beitritt eine Wendung ins Groteske nahm. Hinzu kommt, dass Merkel der Türkei den Flüchtlingsdeal verdankt. Finanziell mag es anders sein, politisch steht die Kanzlerin in Erdogans Schuld.

      Eine gemeinsame europäische Antwort ist nicht ganz einfach

      Freilich darf es nicht wie ein alleiniger Streit zwischen Deutschland und der Türkei aussehen. Merkel braucht eine gemeinsame europäische Antwort. Das klingt einfacher als es ist. Inzwischen sind auch in der Mitte der EU die autoritären Tendenzen unübersehbar. Auch in Ungarn oder Polen geht man nicht zimperlich mit Journalisten um. Orban und Co. dürfte das Regime Erdogan nicht so wesensfremd sein.

      Weder die EU noch die Nato können ein Interesse an einer isolierten Türkei am Rande Europas haben. Erdogan weiß das und reizt es aus. Er ist skrupelloser als andere: Merkel hält die drei Millionen Türken in Deutschland aus der Auseinandersetzung raus, Erdogan wirft sie in die Waagschale. Merkel fühlt sich an Regeln gebunden, Erdogan würde am liebsten verhaftete Journalisten wie Yücel wie Geiseln gegen türkische Putschisten austauschen, die in Deutschland das Grundrecht auf Asyl in Anspruch nehmen.

      Problem Erdogan besteht auch nach Bundestagswahl fort

      Erdogan wird ein Problem bleiben. Die nächste Bundesregierung wird ihm entschiedener entgegentreten und größere Reizpunkte setzen müssen.