Karlsruhe. Im Prozess um den Atomausstieg sind die Argumente gewechselt. Nun ist offen, ob die Richter im Milliardenstreit Recht sprechen müssen.

Im Rechtsstreit um eine mögliche Entschädigung für den beschleunigten Atomausstieg haben sich Energiekonzerne und Bundesregierung einen offenen Schlagabtausch geliefert. Umweltministerin Barbara Hendricks wehrte sich am Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vorwurf, Zusagen seien gebrochen worden. „Wir möchten dieser Unterstellung deutlich widersprechen“, sagte die SPD-Politikerin in Karlsruhe. Die Vorgängerregierung habe 2011 das Ende der Kernkraft beschleunigt. Die im „Atomkonsens“ von 2002 besiegelten Positionen seien dabei aber respektiert worden.

Die Energiekonzerne Eon, RWE und Vattenfall sehen in der energiepolitischen Kehrtwende nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 eine Enteignung, für die sie finanziell entschädigt werden wollen. Eon-Anwalt Rupert Scholz erwiderte Hendricks, dies sei „der entscheidende Bruch“ gewesen. Die Verfassungsklagen sollen die Grundlage schaffen für weitere Schadensersatzprozesse. (Az. 1 BvR 2821/11, 321/12, 1456/12)

Spätestens 2022 sollen alle AKW vom Netz

Unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse in Japan hatte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 eine erst im Vorjahr beschlossene Laufzeitverlängerung für die 17 deutschen Meiler wieder rückgängig gemacht. Acht überwiegend ältere AKW durften überhaupt nicht mehr hochgefahren werden. Die letzten Kraftwerke müssen nun spätestens 2022 vom Netz. Diese festen Abschalttermine gehen noch über den von SPD und Grünen 2002 eingeleiteten Atomausstieg hinaus, der den Konzernen lediglich bestimmte Reststrommengen zugewiesen hatte.

RWE und Vattenfall brachten am zweiten und letzten Verhandlungstag in Karlsruhe vor, dass sie diese Strommengen nun gar nicht mehr komplett erzeugen könnten. „Dieser Punkt war bei Gesetzeserlass klar erkennbar“, warf RWE-Anwalt Benedikt Wolfers der Bundesregierung vor.

Außergerichtliche Einigung nicht ausgeschlossen

Für ihr Urteil in frühestens einigen Monaten haben die Richter nun zu entscheiden, ob sich aus diesen Nachteilen finanzielle Ansprüche ergeben. Welche Summe die Konzerne genau fordern, ist unklar. Es dürfte aber um einen zweistelligen Milliardenbetrag gehen.

Allerdings laufen derzeit auch Verhandlungen mit der Bundesregierung über die Verteilung der gewaltigen Kosten und Risiken beim Abriss der Kraftwerke und der Lagerung des Atommülls. Nach Einschätzung von Experten geht es um mindestens 48,8 Milliarden Euro. Für ein Entgegenkommen verlangt Berlin die Rücknahme aller Klagen. Eine außergerichtliche Einigung ist also nicht ausgeschlossen.

Der vierte große Versorger EnBW teilt die Rechtsauffassung der anderen Energiekonzerne, klagt aber nicht selbst, weil er fast vollständig in öffentlicher Hand ist. Im Fall von Vattenfall müssen die Verfassungsrichter entscheiden, ob sich ein schwedischer Staatskonzern überhaupt auf deutsche Grundrechte berufen kann. (dpa)