Berlin. Ändert die Bundesregierung schon bald ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik? Immer öfter wird nun über Grenzschließungen spekuliert.

Die Grenzen schließen? Es wäre das Ende von Schengen, des freien ungehinderten Verkehrs. Für die vier großen Wirtschaftsverbände ist es eine Horrorvorstellung. Sie haben am Donnerstag demonstrativ die Alternative unterstützt: Den Flüchtlingskurs von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Auch der DGB hält ein Scheitern des Schengen-Abkommens nicht mehr für illusorisch. Die Arbeitgeber und Gewerkschaften wissen genau, worüber in der Politik gemunkelt wird: Plan B. Würde er tatsächlich funktionieren? Und wie?

Selbst Befürworter wollen keinen Zaun um Deutschland ziehen, ebenso wenig einen nationalen Alleingang. Sie befürworten aber eine Auszeit im offenen Schengen-Raum, „um den Reset-Knopf zu drücken“, wie der CDU-Abgeordnete Armin Schuster erklärt. Was er meint: Ein Neustart des Grenzsystems. Können. Wollen. Machen. Aushalten. Die wichtigsten Aspekte im Überblick.

Wer will die Grenzen schließen?

In Deutschland: CSU und Teile der CDU. Bestärkt fühlen sie sich durch die Alleingänge von Österreich und von einigen Balkanstaaten. Laut ZDF-„Politbarometer“ fänden es 58 Prozent der Deutschen gut, wenn die Grenzsicherung verstärkt würde. Zwar beteuerte Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU), in der Regierungszentrale seien sie bestrebt, „einen umfassenden Blick auf alle Möglichkeiten und Alternativen zu haben, die sich bieten“. Doch dürfte Plan B „Ultima Ratio“ sein, die letzte Option „wenn nichts mehr geht“, weiß Schuster.

Merkel ist weit davon entfernt, ihn umzusetzen. Die Kritiker ärgern sich ihrerseits, dass sie für Deutschland ablehnt, was sie im größeren Maßstab für die europäischen Außengrenzen fördert: strengere Überwachung.

Wie ist heute der Alltag?

Entlang der über 800 Kilometer langen Grenze nach Österreich betreibt die Bundespolizei stationäre Kontrollen an den Autobahnen A3, A8 und A93 sowie an der B20. Die Fahrwege werden verengt, sodass Beamte Autos leicht herauswinken können. Der Zugverkehr wird in Passau kontrolliert, anlassbezogen auch am Bahnhof Simbach. Auf der Strecke Kufstein-Rosenheim werden Nah- und Fernreisezüge begleitet und nach Grenzübertritt kontrolliert.

Die Beamten weisen Migranten zurück, die ohne Papiere kommen und kein Asyl in Deutschland anstreben. Laut Altmeier zeitweilig mehr als 500-mal am Tag. Indes: Bayern hat 70 Übergänge. An 65 finden bestenfalls gelegentliche Kontrollen mit mobilen Grenzstreifen statt.

Lässt sich die Grenze abriegeln?

An die fast 3500 Kilometer lange Grenze denkt keiner. Plan B setzt an den Übergängen zu Österreich an. Schätzungsweise 3000 bis 4000 Beamte wären für die Kontrollen nötig. Die Frage, ob seine Behörde das leisten könne, hat der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, in einem Gespräch mit den CDU-Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen bejaht. Dabei kalkulierte er die Amtshilfe der Länder ein – Bayern hat sie mehrfach angeboten.

Die Polizei würde alle Übergänge permanent besetzen und in einem Streifen von 25 Kilometer die Kontrollen verstärken, die Schleierfahndung intensivieren und in diesem Raum technische Ausrüstung bereithalten: Hubschrauber, Wärmebildkameras, Wasserwerfer. Für die Vorbereitung würde die Bundespolizei 72 Stunden brauchen. CDU-Mann Schuster, ehemals selbst bei der Bundespolizei, würde die Grenze nicht länger als „sechs bis neun Monate“ lang dicht machen.

Dem Innenminister liegt seit Herbst 2015 eine Analyse dazu vor, die geheim gehalten wird, weil man die Folgen scheut: Die Milliardenkosten, das Scheitern der Freizügigkeit in der EU. Ein führender Koalitionspolitiker kann sich eine Grenzschließung nicht im Alleingang vorstellen, sondern nur als abgestimmte Aktion. Auch CDU-Mann Schuster wirbt dafür, dass alle Schengen-Staaten Grenzen schließen. Denkbar ist, dass einige EU-Länder vorgehen. Die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien wird schon verstärkt und wirkt längst wie ein Wellenbrecher. Letztlich geht es um das Signal an Flüchtlinge und Schleuser. Wenn alle die Grenzen schließen, wird es schwerer, Ausweichrouten zu finden.

Was wären die Folgen?

An den Fluchtursachen änderte sich nichts. Und wenn die Menschen weiter Richtung Europa ziehen, dann bleibt eine Problemzone: die Seegrenzen. Deshalb konzentriert sich Merkel auf die Sicherung der Außengrenzen. Wenn die Menschen flüchten, werden viele es weiter bis Italien oder Griechenland schaffen. Die Akzeptanz von Plan B hängt von der Bereitschaft der EU-Partner ab, beiden Staaten sowie der Türkei Flüchtlingskontingente abzunehmen.

Was ist der Preis?

Eine Wiedereinführung „dauerhafter nationaler Grenzkontrollen“ lehnt die Wirtschaft wegen befürchteter Nachteile für die Betriebe ab. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung beziffert die Kosten für Deutschland in den kommenden zehn Jahren auf bis zu 235 Milliarden Euro. Thieß Petersen, Senior Advisor bei der Bertelsmann-Stiftung: „Das sind zunächst nur Wartezeiten. Die bedeuten für die Unternehmen höhere Personalkosten, die ganzen Lagerbestände müssen angepasst werden, weil just-in-time-Lieferung nicht mehr möglich ist.“

Damit verteuern sich alle Vorleistungen, die in Europa ja teilweise über mehrere Grenzen gehandelt werden. In der Folge steigen die Produktionskosten. Das wirkt sich wiederum negativ auf Konsum, Export, Investitionen aus. Die Forscher stellten zwei Szenarien auf. Würden die Kosten für Importgüter um ein Prozent steigen, käme es in Deutschland bis 2025 zu einem um 77 Milliarden Euro geringeren Wachstum.

In der ungünstigsten Variante würden die Kosten um drei Prozent steigen. Die Folgen würden selbst die USA und China spüren. Wenn das Wirtschaftswachstum im Euroraum geringer werde, könnten sie weniger nach Europa exportieren. Dazu kommen die gesellschaftlichen Folgen. Vieles, was heute Normalität in Grenzregionen ist, würde schwieriger: In einem Land wohnen, im anderen arbeiten, der spontane Ausflug ins Nachbarland.

Wann kommt Plan B?

In Sicherheitskreisen heißt es, Grenzschließungen seien „leider wahrscheinlich“. Sie rückten „jeden Tag näher“. Viele in Europa „warten auf uns“. Falls zwei EU-Gipfel im März keine Lösung bringen und der Flüchtlingsstrom weiter anhalten sollte, dann dürfte Merkel in Zugzwang geraten.