Die Bundesrepublik feiert Geburtstag. 60 Jahre neues Deutschland, davon die vergangenen 20 Jahre wieder vereinigt. Was macht dieses Land aus, wo spürt man seine Geschichte? Abendblatt-Reporter haben sich auf den Weg gemacht, um ein Bild dieses, unseres Landes zu zeichnen. Diese Geschichte dreht sich um den August 1961: Verzweifelte Menschen seilen sich an Bettlaken aus ihren Wohnungen ab, während Grenztruppen unten eilig die Zugänge vermauern.

Hamburg/Berlin. Wer in der Bernauer Straße nichts zu tun hat, hält sich nicht lange auf. Schön ist hier nichts. Nicht mal urban. Eher deprimierend. Auf der einen Seite, ehemals Ost, befindet sich die große Mauer-Brache, gegenüber steht das Lazarus-Krankenhaus, daneben hat man lieblos ein paar Neubauten hochgezogen. Es gibt keine Geschäfte, keine Cafés, nur eine unwirtliche, kaputte Stadtlandschaft.

Die Bernauer Straße ist eine der hässlichsten und bis heute schmerzhaftesten Wunden Berlins. In der Bernauer Straße ist es leicht, sich die Tragödie der deutschen Teilung in Erinnerung zu rufen.

Dazu gehören die Bilder, die im August 1961 um die Welt gingen. Bilder von verzweifelten Menschen, die sich an zusammengeknüpften Bettlaken aus ihren Wohnungen abseilten, während die Grenztruppen unten eilig die Zugänge vermauerten. Oder das Bild des jungen Bereitschaftspolizisten Conrad Schumann, der über die Stacheldrahtabsperrung in die Freiheit sprang und dabei seine Maschinenpistole wegwarf. Dieses Foto, das am sonnigen Nachmittag des 15. August 1961 an der Bernauer Straße entstand, wurde zur Metapher des Kalten Krieges.

Ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen wurden die Bewohner der Bernauer Straße Augenzeugen und Akteure der deutschen Nachkriegsgeschichte in Berlin. An der Bernauer Straße, die bis heute den Westberliner Stadtteil Wedding vom Bezirk Mitte trennt, ist das SED-Regime mit größtmöglicher Brutalität vorgegangen. Eine, die das am eigenen Leib erfuhr, war Regine Hildebrandt. Die damalige Biologiestudentin hielt sich wegen der Semesterferien gerade zu Hause auf, als die Vertreibung begann: "Sie kamen früh morgens und holten uns aus den Betten!" Eine knappe halbe Stunde gab man den Bewohnern, um das Nötigste zusammenzupacken. Papiere, Bettzeug, Kleider. Ihre Wohnungen durften sie danach nie wieder betreten. Das Haus Nummer 2 wurde erst vermauert und später dem Erdboden gleichgemacht. Genau wie alle anderen Häuser auf der Ost-Seite der Bernauer Straße. Als einziges Gebäude blieb die Versöhnungskirche im Todesstreifen zurück: verschlossen, unerreichbar für die Gemeinde, als bitteres Symbol für das geteilte Deutschland, für das geteilte Europa. Am 28. Januar 1985 wurde sie auf Anordnung des Politbüros gesprengt.

Bis heute zeugt die von Unkraut überwucherte Schneise an der Bernauer Straße vom einstigen Verlauf der Grenzanlagen. Auf dem Abschnitt zwischen Gartenstraße und Strelitzer Straße befindet sich seit 1998 die "Gedenkstätte Berliner Mauer": ein 60 Meter langes Stück der DDR-Grenzanlage, das jetzt von zwei sieben Meter Stahlwänden flankiert wird. Zum eindrucksvollen Mahnmal gehören auch ein Dokumentationszentrum und die Versöhnungskapelle. In der Kapelle heißt es: "Am 13. August 1961 wurde in Berlin die Mauer errichtet. Sie schnitt mitten in das Herz der Stadt, trennte Straßen, Stadtteile; trennte Familien, Freunde. Wer das sah, wusste: Das bleibt nicht. Aber dass es 28 Jahre dauerte, bis die Mauer fiel, ist eine Tragödie. Sie zerstörte viele Leben."

Entlang der Bernauer Straße findet der Spaziergänger auch noch vier Tafeln der "Geschichtsmeile Berliner Mauer". Sie markieren Orte, an denen Fluchtversuche stattgefunden haben. Solche, die tödlich endeten, wie die von Ida Siekmann (22.8.1961), Hans Dieter Wesa (23.8.1961), Rudolf Urban (17.9.1961), Olga Segler (26.9.1961), Bernd Lünser (4.10.1961), Ernst Mundt (4.9.1962), Ottfried Reck (November 1962), Dietmar Schulz (25.11.1963), Dieter Brandes (9.6.1965) und Michael Horst Schmidt (1.12.1984). Aber auch an erfolgreiche: Im September 1962 entkamen 29 Menschen durch einen Tunnel, den Westberliner Fluchthelfer unter dem Todesstreifen durchgegraben hatten, ein anderer Tunnel verhalf zwei Jahre später 57 Menschen zur Flucht in den Westen.

Wir haben im Sommer 2001 die SPD-Politikerin Regine Hildebrandt an den Ort ihrer Kindheit begleitet. Vom Tod gezeichnet, wollte die 60-Jährige noch einmal in die Bernauer Straße zurückkehren. Enttäuschung und Wehmut waren groß. "Hier ist nichts mehr, wie es war", sagte Regine Hildebrandt damals bitter. "Alles ist weg." Geblieben ist das Erinnern.