Hinter den Deichen liegt Neuendorf-Sachsenbande. Ein Fleckchen Erde, das in seiner Einfachheit deutscher kaum zu finden ist. Der tiefste begehbare Ort des Landes - 3,54 Meter unter Normalnull.

Ein Schotterparkplatz an einer wenig befahrenen Straße. Eine zerfledderte Schleswig-Holstein-Flagge flattert am Mast, einen Schritt entfernt eine Deutschlandfahne, ebenso zerschlissen.

Neben einem Trafokasten steht ein blaues Dixiklo. Zwei Elstern verlassen ihren Platz im Geäst eines Holunderbuschs und lassen sich lautstark zankend auf der Kuhweide hinter Stacheldrahtzäunen nieder. Ein Holzpfahl ragt in den grauen Himmel, an ihm Markierungen vergangener Sturmfluthöhen. Auf acht Metern ist die Höhe des Elbdeichs markiert. Sonst deutet nichts darauf hin, dass hier in Neuendorf an der Burger Straße Deutschlands tiefste begehbare Stelle ist - außer einem Holzschild mit der Inschrift "tiefste Landstelle der B. R. Deutschland", gekrönt von einer verrosteten Windmühle, die die Himmelsrichtungen weist.

Flaches Land, so weit der Blick reicht. Die landwirtschaftlich geprägte Gemeinde Neuendorf-Sachsenbande liegt zum größten Teil unter dem Meeresspiegel. Und hier, auf dem gottverlassenen Parkplatz, liegt sie noch weiter unten: 3,54 Meter unter NN, also Normalnull. Rekord. Und doch ein völlig unscheinbarer Ort.

Jeder Besucher sollte mehr Zeit einplanen, als das Navigationsgerät ihm für den Weg berechnet, denn er wird sich garantiert verfahren. Doch keine Sorge, Schleswig-Holsteiner sind freundlich, wenn auch nicht unbedingt auskunftsfreudig. Milde lächelnd werden sie sagen: "Nur 500 Meter von hier. Sie sehen die Flaggen schon von Weitem. Ist nicht zu übersehen. Nur links auf den schmalen Plattenweg einbiegen, an Wiesen, Kühen und Fischreihern vorbei." Wer in Krützfleth landet, ist zu weit gefahren. Das gleiche gilt für Nuttelmarschhof. Von Achterhörn ist es noch eine halbe Stunde und zwei weitere Nach-dem-Weg-fragen-Stopps bis zum Ziel.

Mit etwas Glück entdeckt der kulturinteressierte Tourist den kleinen Wegweiser - direkt am besagten Parkplatz. Ein klares Understatement. Gut, es soll auch erfolgreiche Unternehmen geben, die in ihrer Öffentlichkeitsarbeit genau darauf setzen und auf Effekte oder trendige Stilelemente verzichten. Bescheidenheit ist eine Tugend. Zudem eine sehr deutsche.

Außerdem bekommt der Ort damit fast schon so etwas wie ein Image. Die Gemeinde Neuendorf-Sachsenbande ist quasi ein Geheimtipp. Zutritt nur für Eingeweihte. Und die dürfen sich dann in einem Buch verewigen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich dieses als schwarzer Schnellhefter heraus. Das Dach der Holzhütte kann nicht verhindern, dass die Feuchtigkeit in das Papier kriecht und sich die Seiten wellen. Das kann den Eingeweihten nicht von der Verewigung abhalten. "Ich war auch hier mit Willi = Inge aus Dasel", steht dort mit blauem Kugelschreiber geschrieben. Beim Blättern liest man "Am 1. Mai waren die Frauke und der Toti hier. Welch grandioses Erlebnis!" In Seeth-Ekholt, wo das Paar herkommt, scheint sonst nicht viel los zu sein. Oder die Besucher sind Freunde des feinen Sarkasmus.

Obwohl: Radio und Fernsehen haben auch schon über diesen Flecken Erde berichtet, woraufhin Ingo und Ute hierher gereist sind. "In TV gesehen, echt toll und interessant, schön angelegt", schreiben sie. Eine Seite weiter heißt es: "Hier ist es sehr sauber und gepflegt, sehr schön." Sauberkeit und Ordnung, auch so deutsche Tugenden. Und damit es auch so schön bleibt, mahnt ein Schild die Besucher, bitte hier keine Abfälle zu hinterlassen.

Doch wie kommt es eigentlich, dass genau hier die tiefste Stelle ist? Müsste die nicht rein logisch betrachtet an der Küste liegen? Und Überhaupt, wo wurde der Zollstock angelegt?

Eine Schautafel gibt immerhin Antwort auf die erste Frage. Dort heißt es, die Marsch sei ein von Menschen geprägtes Land. So weit, so gut. Das trifft auf fast alle Flecken deutschen Bodens zu. Doch, anders als andernorts, mussten die Menschen, die die Wilstermarsch besiedeln und bewirtschaften wollten, Deiche als Schutz vor dem Hochwasser errichten.

Der Elbdeich beispielsweise hat eine Höhe von 8,40 Meter über NN. Und sie mussten das Land entwässern. Das geschah mit einem System aus Grüppen, Gräben und Wettern. Und da die Marsch ein lebendiger Boden ist und immer in Bewegung, sackt die tiefste Stelle weiter ab.

Darf es ein bisschen mehr sein? Ein Brunnen plätschert auf dem Rastplatz vor sich hin. Kein gewöhnlicher, sondern ein artesischer. Ein was? Eine weitere Schautafel klärt auf: "Ein natürlicher Brunnen, bei dem Wasser infolge Überdrucks des Grundwassers selbstständig bis an die Oberfläche aufsteigt." Auch am deutschen Tiefpunkt kann man noch etwas lernen.