Bis zum Jahresende soll jeder zehnte Versicherte den neuen Foto-Ausweis erhalten. Dessen Sinn und Sicherheit werden bezweifelt.

Hamburg. Sieben Millionen Plastikkarten - das ist die magische Grenze. So viele elektronische Gesundheitskarten müssen die gesetzlichen Krankenkassen bis Silvester ausgegeben haben. Jeder zehnte Versicherte soll das neue Kärtchen mit Foto und Chip künftig beim Arzt vorlegen, sonst bekommen die Kassen weniger Geld aus dem Gesundheitsfonds. Denn nach Jahren der Planung, missglückten Tests und dem Widerstand von Ärzten und Datenschützern kommt die deutsche Medizin im Internetzeitalter an. Die Kassen machen Dampf, die Ausgabe der Karte läuft. Im nächsten Jahr sollen bereits 70 Prozent der Versicherten die neue Kassenkarte im Portemonnaie tragen.

Nach einer Abendblatt-Umfrage gehen die Branchenriesen voran. "Die Techniker Krankenkasse hat bereits die notwendigen zehn Prozent erreicht und bisher über 800.000 Karten ausgegeben", sagte TK-Sprecher Hermann Bärenfänger. Die Hamburger Versicherten würden erst im kommenden Jahr angeschrieben. Die Barmer GEK arbeitet auf Hochtouren an Produktion und Versand und werde die erforderlichen zehn Prozent aller Versicherten erreichen, sagte ein Sprecher. Die DAK hat zunächst die Versicherten in Nordrhein-Westfalen mit der elektronischen Gesundheitskarte ausgestattet. Mit knapp 800.000 Karten, sagte eine Sprecherin, sei man im Soll.

Die AOK rühmt sich, "bereits frühzeitig mit der Ausgabe der neuen Versichertenkarte begonnen" zu haben, wie eine Sprecherin des Bundesverbandes sagte. Die AOK Rheinland/Hamburg hat bislang 300.000 Karten ausgegeben. Günter Wältermann, Vize-Chef der Kasse, sagte: "Dank der großen Bereitwilligkeit unserer Versicherten, ein Foto von sich für die elektronische Gesundheitskarte zur Verfügung zu stellen, konnten wir den vorgegebenen Zeitplan problemlos einhalten. Wir hoffen, dass die Karte bald durch Festlegung des Gesetzgebers weitere zeitgemäße Funktionen wie die elektronische Patientenakte oder Notfalldaten erfüllen kann - das sind sinnvolle Verbesserungen zum Nutzen des Patienten."

Der Kassenverband vdek sprach von regem Zuspruch. Viele Versicherte würden die erforderlichen Fotos selbst im Internet hochladen. Mittlerweile seien über 85 Prozent der Hamburger Arztpraxen mit den neuen Lesegeräten für die elektronische Gesundheitskarte ausgestattet", sagte Vdek-Sprecherin Stefanie Kreiss.

Doch bei den Ärzten gibt es noch immer reichlich Unmut über die e-Card. Die Bergedorfer Hausärztin Dr. Silke Lüder, die in der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung sitzt, sagte: "Ärzte und Patienten werden getäuscht." Die Gesundheitskarte bringe keinen medizinischen Nutzen. Niemand könne die sensiblen Patientendaten, die in einem zentralen Servernetzwerk lägen, vor einem unberechtigten Zugriff sichern. Außerdem würden die Arztpraxen zu Außenstellen der Krankenkassen, weil beim Einlesen der Karten Name, Kasse und Adresse online abgeglichen würden. Das werde künftig zu Wartezeiten für die Patienten führen. Und die Notfalldaten wie Allergien und Blutgruppe würde kein Arzt erst per Karte auslesen, bevor er einen Patienten retten will.

Die Kartengesellschaft Gematik spricht von einer abgespeckten Karte. Zunächst fehlen Funktionen wie Patientenakte und elektronisches Rezept. Die FDP wollte die Gesundheitskarte wegen der hohen Kosten und der allgemeinen Datenverunsicherung eigentlich bei Regierungsantritt von Schwarz-Gelb stoppen. So steht es im Koalitionsvertrag. Dann knickten die Gesundheitsminister Philipp Rösler und Daniel Bahr ein. In Bahrs Ministerium heißt es nun: Alles Sache der Selbstverwaltung. Sprich: Sollen sich Ärzte, Krankenhäuser und Kassen streiten. Beim jüngsten Gipfel zur Informationstechnologie der Bundesregierung berichteten Computer-Experten, dass sich die Technik der e-Card von Hackern austricksen lässt. Es ging um "Seitenkanalattacken" und Angriffe auf das WLAN-Netz von Arztpraxen. Eigentlich sollten die Praxisrechner von den Internet-Zugängen für die elektronische Gesundheitskarte getrennt werden.

Nach Abendblatt-Informationen gibt es auch Datenpannen zwischen Kassen und Versicherten. So erhielt ein Hamburger Versicherter der AOK Nordwest eine e-Card mit Foto zugesandt, ohne dass er ein Bild zur AOK geschickt habe. "Das ist eine Frechheit", sagte der Mann, dessen biometrisches Foto für seinen Personalausweis auf der Krankenkassenkarte landete. Er bat darum, seinen Namen nicht öffentlich zu nennen. Ob die Hamburger Meldebehörde das Bild an die AOK weitergegeben hat, wird untersucht.

Der stellvertretende Hamburger Datenschutzbeauftragte Hans-Joachim Menzel sagte, eine Weitergabe eines Fotos an eine Krankenkasse sei rechtswidrig. Die AOK Nordwest teilte mit, sie könne sich einen derartigen Fall nicht vorstellen. Was mit Kartenverweigerern passiert, die kein Foto einsenden, ist ungewiss. Ihren Versicherungsschutz behalten sie. Die Kassen raten den Versicherten, noch mindestens ein Jahr die alte Karte zu behalten.