Friedliche Proteste der christlichen Kopten führen zu schwersten Unruhen in Ägypten seit Sturz Präsident Mubaraks Anfang des Jahres.

Hamburg/Kairo. Als Tausende christliche Kopten gemeinsam mit vielen Muslimen in Kairo auf die Straße gingen, um gegen die wachsende Diskriminierung der Kopten zu demonstrieren, sollte dies ein Zeichen friedlicher Solidarität setzen. Doch das Chaos, das dann daraus erwuchs, gefährdet die gesamte gesellschaftliche und politische Entwicklung im bevölkerungsreichsten arabischen Staat.

Plötzlich flogen Steine, dann fielen Schüsse, schließlich marschierte die Armee auf, ein Militärfahrzeug raste vor und zurück durch die aufgebrachte Menge und überrollte mehrere Menschen. Am Ende waren nach offiziellen Angaben mindestens 26 Menschen tot und weit mehr als 200 verletzt. Inoffizielle Beobachter sprachen gar von 36 Toten und mehr als 300 Verletzten. Es waren die schlimmsten Unruhen seit den Wirren im Zusammenhang mit dem Sturz des langjährigen Despoten Husni Mubarak im Februar.

Die Bundesregierung in Berlin forderte die Führung in Kairo auf, für ein Klima religiöser Toleranz zu sorgen und die Vorgänge "so schnell wie möglich aufzuklären", wie Regierungssprecher Steffen Seibert sagte.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) verurteilte die Gewalt am Rande des EU-Ministerrats in Luxemburg scharf. "Wer als Christ seinen Glauben praktizieren möchte, muss das frei tun können, ohne dass er körperlich bedroht wird oder um sein Leben fürchten muss", sagte Westerwelle. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sagte, die Europäische Union erwarte, dass Ägypten Menschen jeder Glaubensrichtung schütze. "26 Tote", sagte Ashton entsetzt, "niemand auf der Welt gibt Menschen das Recht, einen Religionskampf zu führen."

+++ Viele Tote in Kairo: Weitere Gewalt befürchtet +++

Der in Kairo herrschende Militärrat verstärkte die Sicherheitsmaßnahmen, verhängte über Teile Kairos eine nächtliche Ausgangssperre und zog zusätzliche Truppen vor dem Parlamentsgebäude und anderen zentralen Einrichtungen zusammen. Die Unruhen hatten am Gebäude des staatlichen Fernsehens begonnen und sich dann rasch auf andere Teile der Hauptstadt inklusive des Tahrir-Platzes ausgeweitet. Dort hatte die Revolte gegen Mubarak ihren Ausgang genommen.

Auslöser der jüngsten koptischen Proteste waren ein Angriff radikaler Muslime auf die Kirche des Dorfes Mari Nab bei Edfu, die teilweise zerstört wurde, und der Konflikt um eine Schule in der Provinz Minia gewesen, in der christliche Mädchen gezwungen worden waren, mit Kopftüchern zu erscheinen. Die Kopten werfen der neuen Regierung in Kairo vor, sie nicht vor Übergriffen zu schützen, und fordern den Rücktritt des Gouverneurs der Provinz Assuan, der die Angriffe auf die Kirche gerechtfertigt habe. Gouverneur Mustafa al-Sajjid hatte behauptet, das Gotteshaus sei ohne Genehmigung errichtet worden. Es war nicht die erste koptische Kirche, die in Flammen aufging. Die radikalislamische Salafistenbewegung wies jede Verantwortung für die Unruhen zurück. Nach dem Sturz Mubaraks haben radikale Islamisten in Ägypten starken Auftrieb erhalten.

Rund 1000 Soldaten und Polizisten griffen in die sich rasch entwickelnden handfesten Auseinandersetzungen zwischen Kopten und militanten Muslimen ein. Der staatliche Fernsehsender Nil-TV wurde unter anderem von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) beschuldigt, sehr einseitig zulasten der Kopten berichtet zu haben. Beobachter sprachen von "Hetze". So meldete das staatliche Programm Channel 1, die Kopten hätten zwei Soldaten erschossen - obwohl deren Todesumstände völlig ungeklärt waren -, und rief zur Unterstützung der Muslime auf. Diese strömten dann herbei und attackierten die Kopten. Ein rasender Mob machte regelrecht Jagd auf Autos, in denen koptische Christen vermutet wurden. Die Fahrzeuge und ihre Insassen wurden angegriffen. Wie Augenzeugen berichteten, griffen Armee und Polizei nicht dagegen ein. Die größte ägyptische Zeitung "Al-Ahram" berichtete anders als das Fernsehen und schrieb, der friedliche prokoptische Protestzug sei von Provokateuren, radikalen Muslimen und Soldaten mit Steinen und Schüssen angegriffen worden.

Ministerpräsident Essam Scharaf rief die Ägypter zur Ruhe auf. Es handle sich keineswegs um Religionsunruhen, sondern um eine "Verschwörung". Der Premier fügte hinzu: "Die Ereignisse haben uns um mehrere Schritte zurückversetzt. Anstatt einen modernen, demokratischen Staat zu erschaffen, sind wir nun damit beschäftigt, für Sicherheit und Stabilität zu sorgen."

Die oppositionelle Jugendbewegung "6. April", die eine treibende Kraft beim Sturz Mubaraks gewesen war, meinte, die Eskalation in Kairo sei "der Versuch von Konterrevolutionären, den friedlichen Charakter der Revolution zu zerstören". Und auch die ägyptische Wirtschaft wird weiter leiden. Der Leitindex der Börse in Kairo stürzte aufgrund der neuen ägyptischen Unruhen zeitweise um mehr als fünf Prozent ab.