Die Flucht aus der Verantwortung treibt immer bizarrere Blüten.

Bisher war die Aufregung eher lustig, die viele Hamburger packte, sobald die ersten Schneeflocken am Horizont tanzten: Jeder Millimeter war eine große Sache, ab drei Zentimetern wähnte sich der Hamburger im Chaos. Doch nun verwandelt sich die Hysterie in ein Ärgernis. Gestern Morgen hat die Schulbehörde entschieden, den Unterricht in allen Grundschulen und der Mittelstufe abzusagen. Nicht etwa, weil draußen ein Schneesturm toste, sondern weil die Meteorologen zwischen einem (!) und 15 Zentimeter Schnee vorhergesagt hatten. In der Behörde hält man das offenbar für ein Jahrhundertereignis, Abgeklärte nennen es Winter. Und die Ersten argwöhnen schon, das "Schneefrei" sei eine plumpe Mischung aus Weihnachts- und Wahlgeschenk gewesen.

Das dürfte etwas billig sein. Tatsächlich reagiert jede moderne und ausdifferenzierte Gesellschaft anfällig auf Störungen. Wo alles "just in time" geliefert wird, löst jede Verzögerung Kettenreaktionen aus; wo alles hoch technisiert ist, wächst auch das Risiko; wo Normalität Alltag ist, mangelt es an Improvisationskunst. Deshalb reagiert unsere Gesellschaft empfindlicher als früher. Aber muss deshalb gleich die Schule ausfallen? Wohl kaum. Hinter dieser Behördenentscheidung steckt eher die weit verbreitete Angst vor Verantwortung.

Die Behörde ist Täter und Opfer zugleich. Täter, weil es ihr an Souveränität mangelt und sie ein Schreckensszenario zur Maxime ihres Handelns macht. Es könnte ja in der Hauptverkehrszeit schneien, was Unfälle auslöst, die im schlimmsten Fall tödlich enden - was dann der Behörde vorgeworfen werden könnte. Deshalb fällt die Schule aus, deshalb darf es vermutlich nie wieder ein Alstereisvergnügen geben, deshalb verbietet man am liebsten alles, um immer auf der sicheren Seite zu stehen. Doch es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Leben ist immer lebensgefährlich.

WIE WEISS SIND WEISSE WEIHNACHTEN?

Allerdings wäre es zu einfach, nur mit dem Finger auf die Entscheider zu zeigen. Die Schulbehörde ist zugleich Opfer - Getriebene einer aufgeregten Mediengesellschaft, in der jede Böe zum Orkan überspannt wird und jede Winterwetterlage eine Unwetterwarnung gebiert. Sie ist Getriebene einer Gesellschaft, die sofort Strafanzeige erstattet und Schadenersatz oder Schmerzensgeld einklagt. Und sie ist Getriebene einer Gesellschaft, die ihrerseits Verantwortung weiterreicht wie eine heiße Kartoffel. Früher griff man selbst zur Schneeschaufel, um die Straßen vom Eis zu befreien, man entschied eigenverantwortlich, welchen Gefahren man sich stellt. Nun ruft man nach dem Staat und gibt ihm die Verantwortung - doch der will sie auch nicht. Es wäre an der Zeit, dass die Bürger wieder mehr Eigeninitiative wagen.