Der blinde Bürgerrechtler Chen Guangcheng sucht nach seiner Flucht über Hunderte von Kilometern den Schutz der US-Botschaft in Peking.

Peking. In China ist der blinde Bürgerrechtler Chen Guangcheng nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten und Diplomaten aus dem Hausarrest über Hunderte von Kilometern in den Schutz der US-Botschaft geflüchtet. Der aufsehenerregende Fall droht die Beziehungen zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt zu belasten. US-Außenministerin Hillary Clinton und Finanzminister Timothy Geithner werden am Donnerstag und Freitag in Peking zu den jährlichen Wirtschafts- und Sicherheitsberatungen der beiden Regierungen erwartet.

Chen entkam seinen Wächtern den Angaben der Helfer zufolge vor gut einer Woche in der östlichen Provinz Shandong. Er schlug sich demnach mit Hilfe zahlreicher Verbündeter 500 Kilometer weit nach Peking durch und wandte sich in der Hauptstadt an die US-Botschaft. "Als er hier ankam, trafen wir uns, wir umarmten einander und begrüßten uns als Brüder“, sagte der in Peking lebende Dissident Hu Jia. "Wir haben uns etwa eine Stunde lang unterhalten und dann entschieden, dass Guangcheng den Ort aufsuchen sollte, der in China am sichersten ist: die US-Botschaft.“

Hu äußerte sich am Sonntag nach seiner Freilassung. Die Polizei hatte nach Bekanntwerden der Flucht mehrere potenzielle Helfer Chens festgesetzt. So wurden auch der ältere Bruder und Neffe des Bürgerrechtlers zum Verhör abgeführt, wie der Chef der in Texas ansässigen Organisation ChinaAid, Bob Fu, sagte. Frau, Mutter und Tochter Chens befinden sich seinen Angaben zufolge weiterhin unter strengem Hausarrest.

Ein ausländischer Diplomat bestätigte, Chen habe Zuflucht in der Vertretung der USA gefunden. Weitere Einzelheiten nannte er nicht. Weder die Regierung in Washington noch in Peking nahmen Stellung zu den Angaben. Chen strebe kein Asyl an, sagte Hu. "Er will, dass Ministerpräsident Wen (Jiabao) seine Verfolgung und die seiner Familie in den vergangenen sieben Jahren untersuchen lässt.“ ChinaAid berichtete, ranghohe Vertreter Chinas und der USA hätten bereits Gespräche aufgenommen.

Die Flucht erregte am Wochenende große Aufmerksamkeit in China. Auf dem Twitter-ähnlichen Netzwerk Weibo spielten die Nutzer Katz und Maus mit Zensoren, die einen Austausch zu dem Thema unterbinden wollten. Obwohl Suchanfragen zu einschlägigen Schlagworten wie "Blinder Mann“ gesperrt waren, entwickelte sich binnen kurzem ein lebhafter Disput: "Der blinde Anwalt ist gerettet“, schrieb ein Nutzer, der sich "Sikeyadi“ nannte. "Das Licht der Freiheit brennt hell, und diese hündischen Regierungsvertreter sollten schnell das Land verlassen.“

Chens Schicksal genießt eine hohe Aufmerksamkeit in dem Schwellenland: Der Bürgerrechtler hat sich selbst ausgebildet und kämpft gegen die Ein-Kind-Politik, mit der die kommunistische Führung das Bevölkerungswachstum eingedämmt hat. Er stand seit seiner Haftentlassung vor 19 Monaten in seinem Haus in Linyi in Shandong unter Hausarrest.

Laut Bürgerrechtlern gelang es Chen mit einer ausgeklügelten Taktik, seine Wächter zu täuschen. Er habe seit längerem eine schwere Erkrankung vorgetäuscht und immer wieder tagelang sein Zimmer nicht verlassen, um die Einsatzkräfte in Sicherheit zu wiegen. Tatsächlich entdeckten die Aufseher die Flucht demnach erst nach fünf Tagen. Chen habe am 21. April einen günstigen Moment genutzt, sich bei Nacht aus dem Haus geschlichen und eine zwei Meter hohe Mauer überklettert. "Seine Flucht gelang, weil er erfolgreich vortäuschte, er liege im Bett“, sagte Fu.

Für die Sicherheitsbehörden des Landes ist die Flucht der zweite Zwischenfall binnen weniger Monate: Im Februar setzte sich der frühere Polizeichef von Chongqing, Wang Lijun, in ein US-Konsulat ab. Wangs Flucht trug zur Entmachtung des Spitzenfunktionärs Bo Xilai bei, der als einer der Favoriten für den Aufstieg in die oberste Führung im Herbst gegolten hatte. (abendblatt.de/rtr)