Die Energiewende kommt bei den meisten Europäern nicht an. Die Details und Stimmen zum deutschen Atom-Ausstieg bei abendblatt.de.

Berlin/Hamburg. Der von Deutschland beschlossene Atomausstieg stößt in Brüssel hinter den Kulissen auf Bedenken. „Es gibt einige Fragezeichen“, verlautete am Montag aus der EU-Kommission. So habe Deutschland ein Kostenproblem, weil viel Geld in erneuerbare Energien investiert werden müsse. Berlin müsse Milliarden in den Ausbau der Infrastruktur stecken, die bei weitem nicht ausreiche. So könne Windenergie vom Meer bislang nicht nach Bayern transportiert werden. Zudem befürchtet die EU-Behörde, dass Deutschland die verbindlich vereinbarten Klimaschutzziele nicht einhalten könne, wenn Kohlekraftwerke ausgebaut würden.

Offiziell wollte sich die EU-Kommission nicht äußern. „Entscheidungen über den nationalen Energie-Mix und die Atomenergie sind allein Sache der Mitgliedstaaten“, sagte die Sprecherin von EU-Energiekommissar Günther Oettinger in Brüssel. Die EU-Behörde betonte, dass Nuklearsicherheit für die EU sehr wichtig sei. Deshalb fordert Brüssel die Nachbarländer der EU und andere große Industrieländer zu Stresstests für Atomkraftwerke auf, die in der EU bereits beschlossen sind und an diesem Mittwoch offiziell starten.

Deutschland hat mit seinem Ausstiegsbeschluss auch einige EU-Partner verwirrt. „Franzosen und Briten halten die Deutschen und ihre Atompolitik einfach für hysterisch“, sagte ein EU-Diplomat. Auch deshalb hätten sich Frankreich und Großbritannien so heftig gegen noch strengere Kriterien bei den EU-weiten Stresstests für Atomkraftwerke gewehrt, die Deutschland gefordert hatte. „Wir haben den Eindruck, dass Deutschland seine Ausstiegspolitik allen anderen aufzwingen will“, sagte der Brüsseler Diplomat.

Die vollständige Umstellung der Stromversorgung der EU auf erneuerbare Energien bis 2050 droht einer neuen Studie zufolge an fehlenden Stromnetzen zu scheitern. Wenn in Europa und Nordafrika nicht unmittelbar mit dem Aufbau länderübergreifender moderner Netze begonnen werde, „können wir den Traum aufgeben, bis 2050 den Strom zu hundert Prozent aus erneuerbaren Energien zu beziehen“, erklärten das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und weitere Einrichtungen bei der Vorstellung der Studie in Brüssel.

Bei der Entwicklung grenzüberschreitender Netze seien derzeit wegen uneinheitlicher Vorschriften und starker öffentlicher Proteste nur wenig Fortschritte zu verzeichnen, hieß es weiter. „Heute ist es kaum noch möglich, auch nur eine einzige Stromleitung von einem Land in ein anderes zu führen“, so das PIK. Auch bei der geplanten Vereinfachung von Genehmigungsverfahren seien keine Fortschritte zu erkennen. Positive Entwicklungen seien hingegen infolge der Atomkatastrophe in Japan und des Atom-Moratoriums in Deutschland zu verzeichnen, hieß es weiter. Beides habe kurzfristig einen zehnprozentigen Anstieg der Kosten von CO2-Emissionszertifikaten bewirkt und damit das Kosten-Nutzen-Verhältnis für die erneuerbaren Energien verbessert.

Als weitere „wichtige positive Trends“ bezeichnen die Wissenschaftler die anhaltende Unterstützung der Politik für die Entwicklung erneuerbarer Energien. Der technische Fortschritt führe bereits zu einer deutlichen Ausweitung der Leistungsfähigkeit erneuerbarer Energien und zu sinkenden Kosten der Technologien.

Grüne stellen Bedingungen für Zustimmung

Grünen-Chef Cem Özdemir hat die Zustimmung seiner Partei zu den Ausstiegs-Plänen an Bedingungen geknüpft. „Die Grünen sind bereit zum Kompromiss, aber das ,grüne Siegel’ bekommt man nur, wenn auch der Inhalt stimmt“, sagte Özdemir nach einer Bundesvorstandssitzung. Ob sich die Grünen am Ausstiegsbeschluss der Regierung beteiligen, soll die Parteibasis auf einem Sonderparteitag am 25. Juni entscheiden. Özdemir kritisierte, die Regierung habe sich zur Energiewende erst nach den drei Kernschmelzen in Fukushima durchgerungen. Wenn Schwarz-Gelb es mit dem gesellschaftlichen Konsens wirklich ernst meine, könne der Beschluss nicht am Bundesrat und damit an den Ländern vorbei gefasst werden. Ob die Grünen das endgültige Ausstiegsdatum 2022 akzeptieren, ließ Özdemir offen. Dieses Datum sei nur akzeptabel, wenn die verbleibenden Atommeiler bis dahin schrittweise abgeschaltet werden. Dafür müsse es einen verbindlichen Zeitplan geben. Auch müsse der Anteil der Alternativenergien auf mehr als 35 Prozent bis 2020 aufgestockt werden.

Bundesregierung schwenkt auf rot-grünes Ausstiegs-Szenario ein

Bis spätestens 2022 werden in mehreren Stufen alle 17 deutschen Atomkraftwerke stillgelegt. Damit kehrt die Regierung nach der Fukushima-Katastrophe fast zielgenau auf den Ausstiegspfad von Rot-Grün zurück. Allerdings will man den Strom-Konzernen durch AKW-Wartungen und Laufzeitübertragungen kein Hinausschieben des Enddatum nach 2022 erlauben. Außerdem soll die Brennelementesteuer bleiben.

Bei Opposition und Umweltverbänden stießen die Pläne auf Kritik. Der Energieversorger RWE erwägt rechtliche Schritte gegen den Atomausstieg. Am Montagmorgen übergab die von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingesetzte Ethikkommission ihren Bericht zum Ausstieg. „Wir werden die Empfehlungen der Ethikkommission als Richtschnur nehmen“, versicherte Merkel. Nach den Plänen der Koalition sollen die acht älteren Atomkraftwerke – inklusive Krümmel – vom Netz bleiben. Sechs weitere Meiler sollten bis spätestens 2021 vom Netz gehen. Die drei neuesten AKW dann 2022, sagte Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU). Die Regelung entspreche insgesamt einer Restlaufzeit von 32 Jahren, die in der nächsten Dekade noch genutzt werden könnten. „Aber definitiv: Das späteste Ende für die letzten drei Atomkraftwerke ist dann 2022“, betonte Röttgen. Der Prozess sei unumkehrbar. „Es wird keine Revisionsklausel geben.“

Nach dem Regierungspapier zur Energiewende, das Reuters vorlag, soll die energieintensive Industrie wie Stahl- und Aluminiumhersteller mit 500 Millionen Euro aus der Versteigerung von Emissionszertifikaten entlastet werden. Gegebenenfalls solle das auch darüber hinaus möglich sein, heißt es in dem Papier. Zudem soll das Gebäudesanierungsprogramm über 2012 hinaus mit 1,5 Milliarden Euro ausgestattet werden. Der Stromverbrauch soll bis 2020 um zehn Prozent gesenkt werden.

Stand by: Ein älteres AKW bleibt in Reserve

Um Netzstabilität und Versorgungssicherheit zu gewährleisten solle eines der älteren AKW bis 2013 als Reserve-Kraftwerk bereitstehen, sagte Umweltminister Röttgen. Die bis 2016 geltende Brennelementesteuer, die jährlich 2,3 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt spülen soll, wird nicht abgeschafft. Die Regierung strebt einen möglichst großen Konsens für die Energiewende an, mit der sie die erst im Herbst beschlossene Verlängerung der AKW-Laufzeiten wieder zurücknimmt. Die Kurswende ist eine Reaktion auf die AKW-Katastrophe im japanischen Fukushima.

Seehofer für Neustart in Endlagerfrage

CSU-Chef Horst Seehofer spricht sich überraschend für einen Neustart bei der Suche nach einem Endlager für hoch radioaktiven Atommüll aus. Er sagte, alle geologischen Aspekte sollten noch einmal neu auf den Prüfstand gestellt werden. „Wir müssen erst mal Deutschland ausleuchten“, sagte er. Bisher sperrt sich Bayern gegen eine bundesweite Suche nach Alternativen zum Salzstock Gorleben in Niedersachsen. SPD und Grüne zweifeln seit Langem an der Eignung Gorlebens.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace nannte die Ausstiegspläne inakzeptabel. Ein Ausstieg bis 2022 sei nicht der schnellstmögliche, den Bundeskanzlerin Merkel versprochen habe. „Merkel hat ihr Wort gebrochen und nichts aus Fukushima gelernt.“

SPD deutet Zustimmung an – Verwirrung um Biblis B

Die SPD betrachtet die Pläne der Regierung mit Genugtuung, sieht aber noch viele Fragen offen. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel sagte, die politischen Gegner von Union und FDP seien nun „dazu gezwungen “, die Politik des Ausstiegs aus der Atomenergie „zu akzeptieren“. Das sei „ein großer Tag der Genugtuung für alle Atomkraftgegner“ und ein „Tag der Genugtuung für die deutsche Sozialdemokratie“. Merkel strebt einen Konsens mit SPD und Grünen an, um das Thema Atom endgültig aus der politischen „Kampfzone“ zu holen. Die Linke ist bei einem Konsens wahrscheinlich nicht dabei, die Fraktion hatte für einen endgültigen Ausstieg bereits bis 2014 plädiert. Die Glaubwürdigkeit der hessischen CDU wäre nach Ansicht der SPD infrage gestellt, sollte der Atomreaktor Biblis B wieder ans Netz gehen. „Offensichtlich ist Schwarz-Gelb keine Begründung zu fadenscheinig, um an der Atomenergie festzuhalten“, sagte Hessens SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel der Nachrichtenagentur dpa. Sollte Biblis B tatsächlich bis zum Jahr 2013 in „Stand By“-Funktion gehalten werden, wie es derzeit diskutiert werde, sei dies eine „ernste Belastungsprobe“ für die Konsensgespräche über eine Energiewende in Hessen.

Gewerkschaft kritisiert Reserve-AKW

Der Chef der Energiegewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, lehnt die Pläne der Bundesregierung ab, auch nach dem Atomausstieg Kraftwerke als stille Reserve betriebsbereit zu halten. Für Kernkraft auf Bereitschaft noch länger als zehn Jahre sehe er keinen Anlass, sagte der IG-BCE-Vorsitzende laut Vorabmeldung der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Dienstagausgabe). Ob eine Kraftwerksreserve mit Kohle oder Gas erforderlich ist, muss seiner Einschätzung nach noch entscheiden werden. Der IG-BCE-Chef vertrat in der Ethikkommission zu Atomfragen die Gewerkschaften. Vassiliadis nannte es „insgesamt gut“, dass die Koalition das Votum der Kommission aufgenommen habe, wonach Deutschland einen Atomausstieg bis 2022 anstrebe. Er nannte den Atomausstieg binnen der nächsten zehn Jahre „wünschenswert und notwendig, vor allem aber auch machbar“. Vassiliadis fügte jedoch hinzu: „Die Rolle der FDP und deren Ziele sind mir allerdings nicht klar“. Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) hatte gefordert, dass nach dem Atomausstieg ein bis zwei Kernkraftwerke im „Stand-by-Betrieb“ beibehalten werden sollten.

Areva-Chefin: „Ausstieg ist politische Entscheidung“

Frankreichs Atomindustrie reagiert mit Unverständnis und leichtem Spott auf den geplanten Atomausstieg im Nachbarland Deutschland. „Das ist eine rein politische Entscheidung“, sagte die Chefin des Atomkonzerns Areva, Anne Lauvergeon, dem Sender BFM Radio. „Es gab weder eine Volksabstimmung noch eine Befragung der öffentlichen Meinung, auch wenn sich in Umfragen die Emotion der Deutschen zeigte“, fügte sie hinzu. Sie zeigte sich skeptisch, dass Deutschland bei dieser Entscheidung bleibe. „Bis 2020 kann noch viel passieren“, meinte sie. Bereits jetzt habe das Abschalten der ersten Reaktoren zu höheren Stromkosten geführt.

Schweden sehen deutschen Atomausstieg kritisch

Schwedens Regierung steht dem geplanten Atomausstieg in Deutschland kritisch gegenüber. Umweltminister Andreas Carlgren sagte im Rundfunksender SR, die Bundesregierung lege sich „betont hart auf eine Datum fest“. Weiter meinte er: „Damit riskiert man, die allerwichtigste Frage außer Acht zu lassen, nämlich wie wir möglichst schnell erneuerbare Energie ausbauen können.“ Nur so könne man zugleich die Abgängigkeit von Atomstrom wie auch negative Klimaveränderungen vermindern. Die Mitte-Rechts-Regierung in Stockholm hatte im letzten Sommer den nach einer Volksabstimmung 1980 beschlossenen Atom-Ausstieg Schwedens aufgehoben. Danach sind jetzt wieder Neubauten als Ersatz für die Stilllegung von einem der derzeit zehn Atomreaktoren möglich. Als alleiniger Eigner des Energiekonzerns Vattenfall ist der schwedische Staat vom deutschen Atomausstieg auch direkt betroffen. Das Unternehmen betreibt die beiden norddeutschen Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel.

Kritik aus Gorleben

Der Atomausstieg kommt für die Kernkraftgegner im Wendland zu spät. „Der Atomausstieg stottert. Das ist keine energiepolitische Zäsur“, erklärte die Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. So würde weitere elf Jahre Atommüll produziert. Ein Bündnis aus Umwelt- und Anti-Atom-Initiativen fordere eine Grundgesetzänderung. „Damit wird dem Wunsch der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung Rechnung getragen. Diese möchte, dass Atomkraftwerke sofort und unumkehrbar stillgelegt werden“, erklärten die Initiatoren. (rtr/dpa/dapd/epd)