Einige Schwerverbrecher kommen nun frei. Bundesverfassungsgericht kippt deutsche Regelung und fordert Reform der Sicherungsverwahrung.

Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter für verfassungswidrig erklärt. Die in Deutschland geltenden Regelungen verletzen das Grundrecht auf Freiheit, entschied das Gericht. Die Richter ordneten eine Übergangsregelung an. Hochgefährliche Sexualverbrecher und Straftäter dürfen unter engen Voraussetzungen in Sicherungsverwahrung bleiben, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. „Kurz gefasst bedeutet das Urteil: Hochgefährliche Straftäter dürfen unter engen Voraussetzen weiter verwahrt werden, die anderen dürfen freigelassen werden“, so Vosskuhle. Der Gesetzgeber müsse bis zum 31. Mai 2013 neue Regelungen schaffen.

In sogenannten Altfällen muss die besondere Gefährlichkeit der Betroffenen bis Jahresende geprüft werden. Laut Urteil verstoßen die früheren Regelungen zur rückwirkenden Verlängerung der zuvor auf zehn Jahre befristeten Sicherungsverwahrung sowie zu ihrer nachträglichen Anordnung ebenso gegen das Freiheitsrecht der Betroffenen wie die Gesetzesreform vom Dezember 2010. Das Gericht begründete dies damit, dass sich die Sicherungsverwahrung, die nur dem Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Tätern dient, nicht deutlich genug von einer Strafhaft unterscheidet. Dieses sogenannte Abstandsgebot hatte bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg im Dezember 2009 eingefordert.

Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, die Sicherungsverwahrung bis 2013 grundlegend zu reformieren und ein „freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept“ zu entwickeln. Die Betroffenen müssen demnach etwa durch qualifizierte Fachkräfte so intensiv therapeutisch betreut werden, dass sie „eine realistische Entlassungsperspektive“ haben. Ihr Leben in Verwahrung muss zudem so weit wie möglich „den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst“ und ihnen familiäre und soziale Außenkontakte ermöglicht werden.

Mit dem Urteil verbinden sich auch Ängste in der Bevölkerung, dass Dutzende von Betroffenen frei kommen könnten. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hatte damit Aufsehen erregt, dass er sowohl die deutsche Praxis der rückwirkenden Verlängerung wie auch der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gewertet hatte. Straßburg hatte in den Maßnahmen eine unzulässige, verkappte Strafverlängerung gesehen. Wegen der Straßburger Rechtsprechung kamen bislang in ähnlichen Fällen rund 35 von insgesamt 100 Betroffenen frei.

Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle hatte in der Verhandlung vom Februar selbst gesagt, es müsse eine „angemessene Lösung“ zwischen den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit und den Freiheitsgrundrechten der betroffenen Straftäter gefunden werden. Unverhohlen hatte Voßkuhle kritisiert, die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung seien vom EGMR „nur ganz am Rande in den Blick genommen“ worden.

Mit der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Reform der Sicherungsverwahrung wurde nach Darstellung des Bundesjustizministeriums „der Wildwuchs zahlreicher Verschärfungen der letzten Jahre beschnitten“. Angestrebt wird damit eine Konsolidierung der primären Sicherungsverwahrung, ein Ausbau der vorhaltenden Sicherungsverwahrung und eine weitgehende Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung.

Primäre Sicherungsverwahrung: Diese „normale“ Sicherungsverwahrung wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle verhängt. Sie wird schon mit dem Strafurteil angeordnet.

Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung wurde im Jahr 2002 eingeführt. Damit konnten die Gerichte eine Sicherungsverwahrung im Urteil zunächst nur androhen. Vor dem Ende des Strafvollzuges wurde dann aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose entschieden, ob sie tatsächlich verhängt wurde.

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde 2004 eingeführt. Diese Maßregel konnte unter bestimmten Voraussetzungen erst am Ende der Haftzeit kurz vor Entlassung angeordnet werden. Dann nämlich, wenn vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe „neue Tatsachen“ für die Gefährlichkeit des Verurteilten erkennbar wurden.

Doch solche „neuen“ Tatsachen für die Gefährlichkeit erkannten die Gerichte nur in seltenen Fällen an. Der Bundesgerichtshof entschied etwa im Januar 2010 in einem Fall eines Sexualverbrechers aus Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, eine „bloße Neubewertung“ der sadistischen Persönlichkeit des Mannes sei keine „neue Tatsache“. In mehreren Fällen wurden von den Gerichten Anträge auf nachträgliche Sicherungsverwahrung abgelehnt, sodass auch nachweislich gefährliche Sexualverbrecher auf freien Fuß kamen – und deshalb mit hohem polizeilichem Aufwand überwacht werden mussten. Wie zum Beispiel auch in Hamburg.

Seit Juli 2008 galt die Möglichkeit, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen, auch bei nach Jugendstrafrecht rechtskräftig verurteilten Straftätern. Die Zahl der Sicherungsverwahrten in Deutschland – meist gefährliche Sexual- oder Gewaltverbrecher – ist im vergangenen Jahrzehnt von 257 im Jahr 2001 auf inzwischen rund 500 gestiegen und hat sich damit fast verdoppelt. (dapd/dpa/abendblatt.de)