Hamburg. Als Liedsänger ebenso gefeiert wie in Opern: Im Gespräch offenbart Christian Gerhaher, worum er sich sorgt. Zum Podcast.

Für Christian Gerhaher fängt das Singen erst an, wenn es mehr als Notenproduktion ist. Es gibt momentan keinen bedeutenderen Bariton, als Liedsänger wird er weltweit ebenso gefeiert wie in Opern. „Wenn ich singe, hö̈re ich mir selbst zu, nein, eigentlich höre ich dem Werk zu“, sagte er einmal.

„Und es ist dieses Zuhören, das mich ein Werk immer wieder neu und tiefer kennenlernen lässt. Es ist das Zuhören, das mich überwältigt.“Momentan aber ist Gerhaher zu Hause in München. Wartend darauf, dass es wieder Konzerte mit Publikum gibt, aber auch besorgt und verärgert über die Existenzbedrohung, mit der sich die Kultur auseinandersetzen muss.

Hamburger Abendblatt: Ein Sänger, der nicht vor Publikum singen darf, ist… was? Amputiert?

Christian Gerhaher: Das ist wie ein Sänger, der vielleicht gerade ein Sabbatical hat. Das habe ich mir immer gewünscht, jetzt habe ich es, ohne es bestellt zu haben. Mir geht’s gut.

Dumm ist nur, dass Sie nicht entscheiden können, wann das Sabbatical ein Ende hat. Sie entscheiden das nicht.

Christian Gerhaher: Macht jetzt auch nichts. Es ist genug zu tun. Eigentlich ist alles gut. Ich mache mir allerdings Sorgen um die Kollegen, die es härter trifft. Und um das Selbstverständnis unserer Kulturwelt. Da fürchte ich, dass es zu Verteilungskämpfen kommt. Da müssen wir uns wappnen, um Argumente parat zu haben.

Schon vor Corona war das eine Branche, in der man sehen musste, wo man bleibt. Das wird jetzt, bei den Plätzen, Geldern und Möglichkeiten, nach der Krise nochmal ganz anders sein. Was befürchten Sie?

Christian Gerhaher: Innerhalb der Künste sehe ich diese Konkurrenz eigentlich nicht. Es ist nicht so, dass sich das Angebot nach einer Nachfrage richtet und die Plätze durch Hauen und Stechen erhalten werden müssen. Künste zeichnen sich dadurch aus, dass sie vorab liefern, dass sie ein Angebot machen. Dass dieses Angebot eine sinnliche Kreativität und Attraktivität mit sich bringt, die eine Nachfrage auslöst. Es wird mit eher mit anderen Branchen eine Konkurrenz um die Gelder gegen. Und da müssen wir darauf hinweisen, dass beispielsweise hier in Bayern 500.000 Menschen den 200.000 in der Automobilbranche gegenüberstehen. Das ist schon eine ganz schöne Menge. Der Gesamtjahresumsatz unserer Branche im Bund beträgt angeblich 100 Milliarden Euro, das ist einfach zu viel, als dass man sagen könnte, da sparen wir, um alles andere zu finanzieren. Wir alle sind sehr stark eingebunden in ein Leben, dass durch diese Künste geprägt ist.

Neuerdings tue ich mich schwerer als früher, das Argument mit dem Wirtschaftsfaktor Kultur zu ziehen und mit Kosten und Nutzen zu kommen. Das würde bei Rückgängen im Angebot und in der Nachfrage schnell heißen können: Dann lassen wir es eben, war wohl doch nicht so wichtig.

Christian Gerhaher: Das würde ich so nicht sehen. Wichtig ist festzustellen, dass die Künste mit ihrer Kreativität immer der Nachfrage voraus sind. Ein Künstler ist immer einer, der eine Idee vorausliefert. Deswegen gibt es nicht die ganz einfache Beurteilbarkeit danach, wie viele daran interessiert sein mögen. Es wird dazu kommen, dass wir uns stärker erklären müssen, wofür die teilweise öffentlichen Gelder genutzt werden und wofür sie nötig sind.

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In "Erstklassisch mit Mischke" spricht Kultur-Chefreporter Joachim Mischke mit Stars der Klassik.

Was hat die Politik bislang im Bereich der Kultur unkorrigierbar falsch gemacht? Es gab viele Ansätze, vieles war wohl eher gut gemeint statt gut.

Christian Gerhaher: Ob es wirklich von jedem gut gemeint war, weiß ich nicht. Manche Hilfen vom Bund, die nach notwendigerweise langer Meinungsfindung gangbare Lösungen gewesen wären, scheiterten dann doch wie so vieles im Kulturbereich an der Kulturhoheit der Länder. Das ist das einzige, was wirklich konkret falsch gemacht wird: das Festhalten an dieser Hoheit. Wenn man nach einem Anachronismus sucht, ist das ein ideales Beispiel. Es ist Zeit, das abzuschaffen. Bei der Künstlersoforthilfe wurde der Ball vom einen zum anderen geschoben und damit auch die Verantwortung. Außerdem sehr schwierig: die Art der öffentlichen Förderung, die von Veranstalter zu Veranstalter völlig verschieden ist. Man kann beispielsweise ein Stadttheater schlecht vergleichen mit einem Festival. Es braucht eine berechenbare Grundlage. Auch, damit man jene Verträge, die man jetzt nicht auszahlen kann und bei denen man sich juristisch höchst zweifelhaft auf höhere Gewalt beruft, schneller anteilsmäßig auszahlen kann. Ein wirklich lächerliches Unding: Die Situation der Anstellung freiberuflicher Künstler an Opernhäusern und Theatern. Wir zahlen unsere Krankenkassen, Renten und Versicherungen selbst. Wenn wir aber mit einer szenischen Produktion am Theater Gast sind, müssen wir vorübergehend beschäftigt werden. Wir zahlen dann in Renten- und Arbeitslosengeld ein – kriegen aber davon fast nichts und sind trotz Anstellung nicht befugt, Kurzarbeitergeld zu erhalten. Das ist nun wirklich absurd.

Es ist eine Operation an einem sehr offenen Herzen: Man muss mit den akuten Problemen umgehen, und außerdem gibt es die sehr große Aufgabe, gleichzeitig Weichen in eine andere, Zukunft zu stellen, weil die bisherigen Strukturen Webfehler haben.

Christian Gerhaher: Für uns Künstler wird auch die Bildungspolitik zunehmend zum Problem, die im Argen liegt. Früher waren Kunst und Musik gleichwertige Bildungsprogramme. Die immer geringer werdende Bildung kommt mittlerweile in den Programmen der immer geringer gebildeten Politiker an. Das ist ein sich selbst verstärkendes Problem. Dabei ist Bildungspolitik etwas, was das Selbstverständnis unserer Gesellschaft mitbegründet, genauso wie Mathematik und Sprachen. Wir können darauf nicht einfach verzichten.

Zu Beginn der Krise war bezeichnend, wie sehr das Wort Kultur in der Politik unerwähnt blieb.

Christian Gerhaher: Erschütternd, wenn Politiker sagen, die Kultur habe doch gewisse Aufgaben, nämlich so etwas wie Unterhaltung oder Erbauung. Beides sind hochproblematische Begriffe. „Erbauung“ ist seit pietistischen Zeiten nicht mehr passend, um Aufgaben und Inhalte der Künste zu beschreiben. „Unterhaltung“ ist noch problematischer. Denn wenn Kultur nur noch auf Unterhaltung zurückgebrochen wird, sind wir in einer ganz miserablen Situation, und in der Situation, dass wir vom Staat auch nicht mehr mitfinanziert werden. Es geht da nicht um Subventionen, sondern um Investitionen in eine nachhaltige Gesellschaft.

In Bayern darf es am 15. Juni wieder losgehen, überdacht mit maximal 50 Menschen, draußen mit bis zu 100. Die Salzburger Festspiele dürfen bis zu 1000 in einen Saal bringen. Was halten Sie von derart unterschiedlichen Ansagen, als Sänger, der wieder auf einer Bühne stehen soll und will?

Christian Gerhaher: Jeder Versuch, das Bühnenleben wieder zu öffnen, ist an sich gut. Eine Unentschlossenheit sehe ich in diesen unterschiedlichen Ansätzen nicht. Kein Mensch weiß, was dieses Virus bedeutet, sowohl pathologisch als auch gesellschaftspolitisch ist es noch nicht in Gänze greifbar. Es ist schlicht Neuland. Wechselnde und sich ändernde Politikermeinungen sind etwas Normales, für mich geradezu Beruhigendes, weil sie deutlich machen, dass mit großer momentaner Aufmerksamkeit die Lage täglich neu beurteilt wird.

Sind Künstler gerade besonders durchdreh-bedroht, weil sie nicht tun können, was ihr Lebensinhalt ist?

Christian Gerhaher: Ich möchte kein Urteil fällen müssen. Manche leiden darunter, vor allem leiden viele unter der finanziellen Situation. Das wäre der Grund, der am schwersten wiegt. Ich fühle mich nicht mehr betroffen als der Friseur, der ja nun auch wieder arbeiten darf. Eigentlich sogar weniger als mancher Inhaber eines Reisebüros. Und ich hab‘ genügend zu tun. Mit meinem Pianisten Gerold Huber arbeite ich an einem großen Projekt, alle Schumann-Lieder, das werden zehn bis elf CDs. Wie der Fisch auf dem Trockenen fühle mich gerade nicht.

Sie haben auch Medizin studiert. Helfen diese Kenntnisse gerade, um mit der medizinischen Seite der Krise klar zu kommen?

Christian Gerhaher: Ich sehe keinen großen Vorteil, außer dass ich etwas schneller reagieren kann, falls es zu Entscheidungen kommt, wie man mit dieser Pandemie umzugehen hat. Das Studium hab‘ ich vor mehr als zwei Jahrzehnten abgeschlossen, die Doktorarbeit war über Handgelenkschirurgie ... Es ist alles Schnee von gestern.

Momentan wird auch viel über neue Konzertformate nachgedacht. Beim Vortrag einer Schubert-„Winterreise“ oder einem Schumann-Zyklus ist da wenig zu wollen. Glauben Sie, dass sich auch in der Lied-Sparte Dinge ändern müssen oder sollten?

Christian Gerhaher: Ich sehe keinen Anlass für Veränderung. Aber ich sehe auch, dass viel live gestreamt wird. Aufwendige Studio-Aufnahmen mit Perfektionsanspruch, die sind etwas anderes. Ich habe das Gefühl, es könnte sein, dass man hier sein Live-Repertoire verbrennt. Ich möchte nicht nur einmal singen müssen, was ich vorbereite. Abgesehen davon steht die Frage der Bezahlung im Raum.

Also Selbstausbeutung 2.0?

Christian Gerhaher: Ich möchte nicht sagen, dass es das ist. Aber ich finde, es steht zu befürchten.

Ihnen war also nicht danach, das Handy ins Bücherregal zu klemmen und irgendetwas wegzustreamen?

Christian Gerhaher: Nein. Ein Pianist kann halt ewig spielen. Ein Sänger muss mit seinen physiologischen Grundlagen haushalten und kann sich nicht ständig in die Welt verbreiten.

Musik hat für viele auch eine tröstende Funktion.

Christian Gerhaher: Das mit dem Trost liefern, das ist so eine Sache … manchmal vielleicht etwas übertrieben. Musik liefert den Trost mit, den sie durch ein Aufrauen der Seele selbst nötig macht. Der Trost kommt, weil die Musik selbst ihn nötig macht.

Was, wenn es wieder geht, würden Sie als erstes auf einer Bühne singen wollen? Muss etwas ganz dringend raus?

Christian Gerhaher: Nein, eigentlich nichts.

Hauptsache Singen?

Christian Gerhaher: Auch nicht. Ich bin zufrieden, wenn ich singen kann und freue mich nachhaltig über das Kennenlernen der gesamten Lieder von Schumann. Bei anderen ist hin und wieder etwas dabei, wo man denkt, das ist eher zweitrangig oder das bedeutet mir nichts. Bei Schumann: ein, zwei von 300 Liedern.

Dann müssten Sie aufhören, weil es danach nicht mehr schöner werden kann.

Christian Gerhaher: Nein. Ich muss allerdings auch zugeben: Es wird nicht einfacher, wenn man physiologisch über den Zenit ist, während die Vorstellungen, die man von der Musik hat, immer mehr wachsen. Es muss also eine Art Genügsamkeit und Selbstvergebung dazukommen, wenn man nicht mehr schafft, was man schaffen möchte. In dem Prozess bin ich erst.

Zum Abschluss der Bogen in die Gegenwart: Wie sieht die „Kulturnation“ Deutschland wohl in drei Jahren aus?

Christian Gerhaher: Beim Begriff „Kulturnation“ möchte ich einhaken. Wir haben hier eine Orchester- und Theaterdichte, die unvergleichlich ist. Aber mit Stolz sollte uns das nicht erfüllen. Ich denke immer daran, dass das Volk der Dichter und Denker im Dritten Reich mit so unnachahmlicher und unvorstellbarer Grausamkeit andere gequält hat und sich vorher vielleicht von denen noch eine Beethoven-Sonate spielen ließ. Das relativiert sofort den moralischen Wert, den man vielleicht gern mit so einer Kulturnation in Verbindung brächte. Wir haben weltweit fast ein Alleinstellungsmerkmal in der Vielfalt der Darstellenden Künste. Diesen Vorteil, den viele bloß mit Geldausgeben verbinden, den sollten wir nicht einfach hingeben. Ich glaube, dass wir auch sehr viel zurückbekommen.

CDs: Schumann „Frage“ / „Myrthen“ Christian Gerhaher (Bariton), Kamilla Tilling (Sopran), Gerhard Huber (Klavier) (Sony Classical, ca. 11 bzw. 13 Euro).