Hamburg. Kurz vor seiner Japan-Tournee spricht Hamburgs Generalmusikdirektor über Zufriedenheit, Wunder und Horror am Polarkreis.

Bei Begegnungen mit Generalmusikdirektor Kent Nagano wird es sehr schnell sehr grundsätzlich, für schnell rausgehauene Pointen ist er das falsche Gegenüber. „Musik ist wirklich keine Arbeit. Sie ist ein Leben. Wie ich atme, wie ich denke, wie ich träume. Sie ist immer da.“ Der Kalifornier Nagano ist nicht nur Chefdirigent in Hamburg, sondern auch in Montréal. Deswegen ging es in diesem Gespräch auch um die konkreten und erschreckenden Auswirkungen des Klimawandels, denen er am Rande des Polarkreises begegnete. Er berichtete aber auch, wie er sich vor Ablenkungen schützt und wie es war, mit seiner Frau Mari Kodama als Solistin alle Beethoven-Klavierkonzerte einzuspielen.

Hamburger Abendblatt: Lieber eine einfache oder eine schwere Frage zum Auftakt?

Kent Nagano: Fangen wir mit der einfachen an.

Ganz einfach: Wie oft sind Sie mit sich als Dirigent zufrieden?

Kent Nagano: Das ist die einfache Frage?!… Ehrlich gesagt, wir Dirigenten sind nicht so oft zufrieden. Es gibt immer Dinge, die besser sein können. Wenn man zufrieden ist, oder zu selbstsicher, kann das für die Kunst sehr gefährlich sein.

Ich stelle mir das extrem frustrierend vor: Wenn ein Maurer sich vornimmt, eine Mauer zu bauen und die fällt am Ende nicht um, ist das Ziel eindeutig erreicht. In Ihrer Branche ist das nicht so eindeutig.

Kent Nagano: Die Kunstform Musik ist ein Prozess, sie lebt und geht weiter. Sie ist nicht fertig. Es kommt immer darauf an, wie wir über Klang, Ton, Musik, denken.

Dann jetzt auch noch die schwere Frage: Wie oft sind Sie mit anderen – mit Solisten, Sängern, Orchestern – zufrieden?

Kent Nagano: Man kann bei Zusammenarbeit in der Kunst immer wieder Neues entdecken, frische Impulse erhalten. Das kann wirklich aufregend sein. Zufrieden oder froh sein wäre da nicht das richtige Wort.

Schuld an den Fragen ist Ihr Buch, das den deutschen Titel „Erwarten Sie Wunder!“ hatte, mit Ausrufezeichen. Damit fordern Sie das Publikum ja dazu auf, dass man von Ihnen Übermenschliches verlangen soll, dass Sie Abend für Abend zaubern.

Kent Nagano: Man erlebt in der Musik immer wieder überraschende Ergebnisse. In dieser Hinsicht möchte ich gern auch das Thema Kinder und Jugendliche betonen. Früher hatten sie durch die Schule regelmäßigen Kontakt mit dem, was wir klassische Musik nennen; die Eltern hatten als soziale Priorität sehr oft den Wunsch, dass ihre Kinder ein Instrument erlernen. Aber für viele junge Menschen hat heute die klassische Musik absolut keine Bedeutung. Wenn man sie fragt, mögt ihr Mozarts Musik, haben sie keine Ahnung, was Mozart ist.

Es geht also jetzt darum zu erkennen, dass diese Musik ein selbstverständlicher Teil des Lebens sein kann? Wir haben in Deutschland das schöne Wort Schwellenangst…

Kent Nagano: Stimmt. Wir erwarten an jedem Abend einen Moment des Zauberns. Wir leben für diese Möglichkeit, wir üben darauf hin.

Wie lang können Sie es physisch ohne Kontakt zu Live-Musik aushalten? Irgendwann haben Sie ja auch Urlaub. Können Sie dann ohne oder sind Sie schnell auf Entzug?

Kent Nagano: Musik ist wirklich keine Arbeit. Sie ist ein Leben. Wie ich atme, wie ich denke, wie ich träume. Sie ist immer da. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht Musik mache. Für mich ist jede Phase der Vorbereitung einer Vorstellung wunderbar. Vom ersten Moment, in dem ich eine neue Partitur öffne, die Recherche- und Probephasen, am Ende das Konzert – jede Phase ist so reich, so inspirierend, so energievoll. Ich würde nicht sagen, dass Musik Arbeit ist. Es gibt aber auch die Gefahr von Routine, sobald man Dinge zu oft wiederholt. Und Routine ist für einen Künstler der Tod.

Es gab neulich ein Interview mit Ihrem Dirigentenkollegen Christian Thielemann, in dem er erzählte, dass er zu manchen Stücken – ganz besonders Wagners „Tristan“ – eine Art Sicherheitsabstand braucht, um nicht leibhaftig Schaden zu nehmen. Geht es Ihnen bei gewissen Werken auch so?

Kent Nagano: Musik ist etwas anderes als reine körperliche Arbeit. Wenn man Musik macht, gibt sie Energie. Nach einer Vorstellung bin ich niemals körperlich erschöpft. Im Gegenteil, vielleicht bin ich danach so voller Energie, dass ich nicht mehr normal sein kann.

Christoph von Dohnányi legt sich zuhause eher keine Musik auf, er sieht sich die Partituren an und „hört“ so die Musik. Können Sie das nachvollziehen, geht auch in Ihrem Hirn eine HiFi-Anlage an?

Kent Nagano: Mir geht es genau so. Zuhause haben wir keine Musik, niemals. Absolute Ruhe. Ich lese die Partituren in absoluter Ruhe, das ist viel effizienter. Eine Partitur ist ähnlich wie ein Buch, aber statt Wörtern gibt es darin eine andere Form von Wörtern.

Ihre Karriere dauert nun mehrere Jahrzehnte. Sie haben überall dirigiert, so ziemlich alles. Gibt es trotzdem noch offene Posten auf Ihrer Wunschliste?

Kent Nagano: Die neun Beethoven-Sinfonien sind ein großer Teil meines Repertoires, und bei jeder Begegnung ist es notwendig und eine große Lust, zu den Quellen zu gehen. Aber ich habe Lust, noch mehr Beethoven-Kammermusik zu machen, ebenso Kammermusik von Haydn. Außerdem studiere ich gerade intensiv einige Messen von Johannes Ockeghem. Und endlich klappt nun etwas, das ich schon lange vorhatte: alle Schubert-Sinfonien in einem Zyklus in einer Woche. Wir werden das nun bald in Montréal machen.

Themenwechsel: Vor einiger Zeit waren Sie mit Ihrem Orchester aus Montréal im Norden Kanadas auf Tournee, zu wirklich sehr entlegenen Orten. Wie ist es dort, jetzt, wo das Thema Klimawandel so sehr und so heftig diskutiert wird? Die Veränderungen dort sind ja irreversibel. Wie empfinden Sie das?

Kent Nagano: Das war für mich ein dramatischer Schock. Fast ein Horror. Wir waren nach etwa zehn Jahren zum zweiten Mal am Polarkreis. Die Unterschiede waren so dramatisch, ich konnte es kaum glauben.

Beim ersten Mal voll vereist, beim zweiten Mal grün?

Kent Nagano: Kann man so sagen. Der Lebensstil war radikal anders. Bei beiden Rundreisen haben wir im selben Dorf angefangen, und dort ist jetzt statt Eis ein Golfplatz. Wo Eis war, kann man jetzt Blaubeeren pflücken. Ich war wirklich mehr als schockiert. In einem anderen Dort hatte ich nach der Vorstellung eine Eskorte zurück dorthin, wo wir schlafen sollten. Weil die Eisbären unglaublich hungrig sind und sich nicht mehr wie früher von Fisch ernähren, kommen sie ins Dorf, um dort Nahrung zu suchen. Auch das war ein Signal, dass die Geschwindigkeit des Klimawandels sehr schnell ist.

Muss die Klassik-Branche, in der alle ständig von A nach B fliegen, auch umdenken und zukünftig möglichst klimaschonend unterwegs sein, sich ganz neu organisieren? Sie kommen andererseits aber nicht mit dem Fahrrad zu Ihren Konzerten.

Kent Nagano: Lebensstile ändern sich, immer… Wenn man Künstler ist, muss man vorsichtig sein, dass die Geschwindigkeit des Lebens keine negativen Auswirkungen auf unsere Fähigkeit hat, tief in die Kunst zu gehen. Und dabei geht es nicht nur ums Reisen. Das Handy – ich lasse das im Keller, wenn ich etwas studiere, dann möchte ich keine Ablenkung haben. Und auch keinen Computer. Wenn der in der Nähe ist, ist das eine Form der Verführung. Wir haben zuhause keinen Fernseher, keine Stereo-Anlage, damit die Ruhe, die wir brauchen, nicht gefährdet wird.

Der nächste Themenwechsel: Beethoven-Jahr und überhaupt: Beethoven. Sie haben gerade alle Konzerte mit Ihrer Frau als Solistin auf CD eingespielt. Wie muss ich mir das vorstellen? Das kann ganz problemfrei gewesen sein, andererseits: Wer hatte da immer das letzte Wort?

Kent Nagano: Das ist eine sehr gute Frage. Die Musikgeschichte ist voller Partnerschaften. Kürzlich habe ich eine Biografie von Clara Schumann gelesen, mit ihr und Robert muss es sehr interessant gewesen sein. Meine Frau uns ich haben uns als Musiker kennengelernt. Fünf Jahre lang waren wir Kollegen. Als Musiker freuen wir uns immer, wenn wir die Chance haben, mit jemandem Musik zu machen, bei dem die natürlichen Impulse so sehr ähnlich sind. Dann braucht man keine normalen Proben, die künstlerische Konversation kann sofort in die Nuancen gehen. Mari war eine Pianistin, mit der ich diese starke Bindung gehabt hatte, von Anfang an. Jetzt, über 30 Jahre später, ist das als Fundament eine sehr starke Hilfe. Die Debatte „Wer hat Recht?“ gibt es nicht.

Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Es muss doch irgendwo eine Stelle gegeben haben, bei der der eine nach links wollte und die andere nach rechts.

Kent Nagano: Ich will nicht sagen, dass wir keine Diskussionen hatten, aber es ging ums Warum. „Du musst mir folgen“, das gab es nicht.

Nächste Philharmoniker-Konzerte: 27.10. 16 Uhr / 28.10, 20 Uhr. Beethoven: „Egmont“-Ouvertüre, Liszt: Klavierkonzert Nr. 1, Mahler: Sinfonie Nr. 5. Solist: Noboyuki Tsuji (Klavier). Elbphilharmonie, Gr. Saal. Evtl. Restkarten. CDs: Beethoven Klavierkonzerte Nr. 0 – 5 u.a. DSO Berlin, Mari Kodama (Klavier) u.a. (Berlin Classics, 4 CDs, ca. 22 Euro)