Hamburg. Der Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters über Lieblingssäle, Druck von außen und innen – und eine spezielle Beziehung.

Nach knapp zwei Jahren Vorlauf und viel Aufregung über die Art und Weise der Stabübergabe ist es nun soweit: Alan Gilbert, von 2004 bis 2015 Erster Gastdirigent des NDR-Orchesters, beginnt seine zweite Runde, diesmal als Chefdirigent. Wie bei seinen Vorgängern wird das Thema flächendeckend bespielt: Nach der „Opening Night“ mit Überlänge, die an diesem Sonnabend zum zweiten Mal über die Bühne der Elbphilharmonie geht, folgt eine dreiwöchige One-Man-Show, um den gebürtigen New Yorker mit mehreren Konzerten ins Bewusstsein des Hamburger Publikums einzugemeinden.

Hamburger Abendblatt: In „New York, New York“ singt Frank Sinatra: If I can make it there, I’ll make it anywhere”. Falls Sinatra damit recht hat, wird der Job für Sie in Hamburg ja ganz einfach.

Alan Gilbert: Oh, das würde ich so nicht sagen. Es stimmt: Wenn man Chef des New York Philharmonic war, hat man das vorzuweisen. Ich habe das überlebt. Aber die Situation jetzt kann man nicht damit vergleichen. Ich fange in einer Stadt an, die ich schon kenne und sehr mag. Jetzt ist sie ein toller Ort für Musik. Natürlich hoffe ich, dass es gelingt. Vielleicht klingt das überraschend, aber ich verspüre keinen Druck von außen, der stärker wäre als meine eigene Selbstkritik. Über „making it“ oder „not making it“ denke ich deswegen nicht nach.

Lustigerweise werden Sie als „der Neue“ inszeniert, obwohl sie länger Erster Gast waren, als Thomas Hengelbrocks gesamte Amtszeit dauerte.

Alan Gilbert: Stimmt. Die Beziehung ist speziell. Aber: Chef war ich vorher nicht! Die Aufgaben sind nun andere. Während der Proben in der vergangenen Woche habe ich auch Ideen vorgeschlagen, deren Ziele weiter in der Zukunft liegen. Für einen Gastdirigenten wäre so etwas nicht angemessen, für den Chefdirigenten ist es essenziell.

Ihr „Opening Night“-Programm beginnt mit Brahms Erster, Hamburger Schunkelklassik-Repertoire, danach eine Uraufführung von Unsuk Chin, Bernsteins Erste, Stücke von Ives und Varèses „Amériques“. Das hat was von Zuckerbrot und Peitsche.

Alan Gilbert: Für mich ist einiges an diesem Programm ungewöhnlich, unter anderem, dass wir mit dem Brahms beginnen. Ich wollte mich aber mit diesen Stücken vorstellen, um zumindest einen Vorgeschmack darauf zu geben, wie die Bandbreite meiner Vorlieben aussieht.

Und was ist das Statement: Ich bin in Hamburg und ich bin Amerikaner?

Alan Gilbert: Nein, das wäre zu einfach. Ich liebe Brahms 1 wirklich, ich fand es schön, damit zu beginnen. Bernstein: klar, er war einer meiner Vorgänger in New York, seine 1. Sinfonie war aber auch das allererste Stück, das ich hier, 2001, beim NDR dirigiert habe. Ich wollte mich nie als „amerikanischer Dirigent“ präsentieren. Ich finde nicht, dass diese Betonung notwendig wäre, dass das eine große Sache wäre. „Amériques“ ist so weit von Brahms entfernt, wie man nur sein kann. Ives‘ „Unanswered Question“ ist eine tiefgründige philosophische Aussage. Das Eröffnungsprogramm muss man in Gänze sehen – es zeigt, wohin der Weg geht.

Vor einigen Tagen hat Kirill Petrenko seinen Posten bei den Berliner Philharmonikern angetreten, mit Beethovens Neunter. Es gab Übertragungen in 150 Kinos, Live-Stream, dann das Konzert am Brandenburger Tor vor über 30.000 Menschen. Neidisch, bei solchen Dimensionen der Aufmerksamkeit? Und braucht es solche Events, um Klassik an die Menschen zu bringen?

Alan Gilbert: Es freut mich, dass es für ihn so gut läuft, ich wäre gern dabei gewesen. Wir machen es hier anders. Die Open-Air-Formate sind toll. Wir hatten Konzerte in New York vor 50, 60, 70.000 Menschen im Central Park.

Ist es nicht höllisch erschreckend, vor so vielen Menschen auf eine Bühne hinaus zu müssen?

Alan Gilbert: Nein. Das ist nicht anders oder „schlimmer“ als bei normalen Konzerten. Im Gegenteil, ich finde das sehr angenehm und entspannt. Bei einem Auftritt vor sehr wenigen Personen, auf deren Urteil ich wirklich Wert lege, kann ich viel aufgeregter sein…

… Ihre Eltern, Geigerin und Geiger beim New York Philharmonic?

Alan Gilbert: Beispielsweise (lacht). Sie sind für die Konzerte hier, aber: kein Problem. Sie haben mich schon so oft dirigieren gesehen. Und, als kurzer Einschub: Ihr Job hat sie nie verbittert gemacht. Sie kamen nie nach Hause und haben über die Arbeit im Orchester gezetert, sie waren nie zynisch.

Jetzt, mit Ihrem Amtsantritt, beginnt in der Elbphilharmonie die Phase, in der Konzerte nicht mehr automatisch und sofort ausverkauft sind. Das erhöht den Lieferdruck. Sie müssen jetzt nicht nur möglichst gut spielen, sondern auch das programmatisch Richtige.

Alan Gilbert: Den Druck, möglichst gut zu spielen, hatten wir auch bislang schon. Aber einfach irgendetwas aufführen, weil ja eh alle Karten weg sind – so habe ich noch nie gedacht. Die Bandbreite der Musik ist wichtig. Ich nenne das den „Bolero-Effekt“: wenn hinter womöglich anstrengende Stücke Ravels „Bolero“ ans Ende gesetzt wird. Das kann auch so wahrgenommen werden, als ob Orchester nicht an die so genannte „sonderbare“ Musik glauben würden. Als ob Entschädigung oder Nachsüßen notwendig wäre.

Ihre Konzerte der nächsten Wochen haben das Etikett „Klingt nach Gilbert“...

Alan Gilbert: … eine große Entschuldigung meinerseits an die Leute, die sich diesen Marketing-Spruch ausgedacht haben, der ja bestimmt toll ist, aber: Ich mag diesen Slogan nicht. Es sollte sein: „Klingt nach uns“, oder „Klingt nach Alan Gilbert und dem Elbphilharmonie Orchester“. Denn es geht ja um uns.

Eines dieser Konzerte, mit Musik von Haydn, findet in der Laeiszhalle statt. Dort war das NDR-Orchester schon lange nicht mehr, weil man ja alle Energie in das Umstellen auf den neuen Saal in der Elbphilharmonie gesteckt hat. Glauben Sie, das Orchester wird sich in der alten Heimat noch wiedererkennen?

Alan Gilbert: Ich hoffe, dass das kein Problem wird. Ich wollte ausdrücklich auch etwas in der Laeiszhalle machen. Sie war immer einer meiner Lieblingssäle - für das richtige Repertoire. Hamburg kann froh sein, sie zu haben. Das Orchester wird sicher nicht vergessen haben, wie es ist, dort zu spielen.

Es wird also mehr als diesen einen Termin geben?

Alan Gilbert: Absolut. Noch ist nicht geplant, aber wir wollen nachlegen.

Wenn wir uns für heute in einem Jahr verabreden und ich frage Sie: Was haben Sie in den vergangenen zwölf Monaten geschafft, was wäre die Antwort?

Alan Gilbert: Wir beginnen jetzt uns wirklich kennenzulernen. Der Klang wird anders sein - aber das ist eine ziemlich vage Ansage, weil gerade der Klang ein so elastisches, schwer fassbares Konzept ist. Ich möchte den Musikern dazu verhelfen, dass sie ihre Perspektiven und will aufnehmen, was sie anbieten. Es gab Unsicherheiten. Das hatte auch mit dem Saal zu tun, mit der Frage, wie man sich dort einfügt. Ich möchte für eine relaxte, positive, vertrauensvolle Spielweise sorgen, die auch Risiken eingeht. Das alles gibt es schon, aber wir werden es weiterentwickeln.

Konzert: „Opening Night“ Sa 7.9., 19.00 Elbphilharmonie, Gr. Saal. Evtl. Restkarten an der Abendkasse. Das Konzert vom 6.9. ist auf concert.arte.tv und www.ndr.de online aufrufbar. Alle weiteren Termine unter www.ndr.de/eo.