Eisenbahner, Flughafenmitarbeiter, die Menschen von der Stadtreinigung, Ärzte und Pflegekräfte, Erzieher. So lang wie jetzt war die Liste der Streikenden schon seit vielen Jahren nicht mehr. Die Gewerkschaften haben Stärke gezeigt. Operationen wurden abgesagt, der Müll blieb liegen, die Fähren vertäut an ihren Liegeplätzen, Kitas stellten auf Notbetrieb um. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“, heißt es schon in der Hymne aufs revolutionäre Proletariat.
Und der große Protesttag steht noch bevor, am Montag dürfte Deutschland stillstehen. Was dann geplant ist, hat mit einem Warnstreik als Begleitung laufender Tarifverhandlungen nichts mehr zu. Ver.di und EVG haben de facto zum Generalstreik aufgerufen. Und damit haben sie deutlich überzogen. Die Gewerkschaften riskieren, Rückhalt und Verständnis in der Bevölkerung zu verlieren.
ver.di verliert seit Jahren Mitglieder
Die Mitgliederentwicklung bei Ver.di ist dramatisch. Allein im vergangenen Jahr gingen der Gewerkschaft mehr als 35.000 Beitragszahler verloren. Damit setzte sich ein Trend fort, der für Gewerkschaften höchst alarmierend ist. Mit den Mitgliedern verlieren sie Geld, vor allem aber Bedeutung und Einfluss. Es gibt nicht den einen Grund für die Austritte. Die Verrentung der Babyboomer zählt genauso dazu wie sinkende Realeinkommen und deutlich steigende Preise. Mieten, Lebensmittel, Strom, Heizkosten – das Leben hat sich dramatisch verteuert.
Für Ver.di ist die Inflation Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihren Alltag finanzieren sollen, eher am Gewerkschaftsbeitrag sparen als an Lebensmitteln. Die Inflation ist aber auch ein Segen für sie: Sie birgt die Chance, hohe Lohnabschlüsse zu erreichen, auf sich und die eigene Wirkungsmacht aufmerksam zu machen, die Leute zurückzuholen. Hier kann die Gewerkschaft etwas tun, auch in eigener Sache.
Renteneintritt der Babyboomer wird zur Herausforderung
Beim zweiten großen Kündigungsgrund aber, beim Abgang der Babyboomer, ist sie machtlos. Jedes Unternehmen, jede Behörde leidet unter der millionenfachen Verrentung. Nicht nur, dass damit ein großer Erfahrungsschatz verloren geht. Über einen Fachkräftemangel hinaus sind wir längst beim Arbeitskräftemangel angekommen. Egal ob hoch qualifiziert oder schlecht ausgebildet – jede Branche klagt über fehlende Mitarbeiter.
Am Montag will nicht nur Ver.di Deutschland lahmlegen und Stärke zeigen, sondern auch die Eisenbahnergewerkschaft EVG steigt dann wieder in den Arbeitskampf ein. Das ist die Gewerkschaft, über die sich Lokführer in der um Mitglieder und Einfluss konkurrierenden deutlich kleineren GdL gern lustig machen. So hat jede Gewerkschaft – neben dem berechtigten Kampf um faire Einkommen und ordentliche Lohnsteigerungen – auch ihre eigenen Motive.
Der komplette Stillstand droht
Die Gewerkschaften werden Deutschland am Montag lahmlegen – was man eher aus Italien oder Frankreich kennt. Nur: Das passiert in einer Phase, in der die Tarifpartner durchaus miteinander sprechen. Angebote der Arbeitgeber liegen vor. Auch wenn sie noch zu gering sind: Aber statt mit dem Großstreik den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren, wäre es sinnvoller zu verhandeln.
Hohe Lohnforderungen sind nicht nur angesichts der Inflation berechtigt, sondern auch vor dem Hintergrund sehr moderater Tarifabschlüsse in der Pandemie. Bei solchen Forderungen können die Gewerkschaften mit großem Rückhalt rechnen – bei einem gefühlten Generalstreik, der nahezu jeden trifft, eher nicht.
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