An den zwei erfolgreichsten Sendungen der Saison lässt sich das momentane Motto der Casting-Gesellschaft studieren: Liefere eine Show!

Es gibt eine hübsche Anekdote, die von der Schauspielerin Doris Day handelt. Beim Öffnen ihres Kühlschranks, so heißt es, habe sie oft unwillkürlich gelächelt, weil sie das Aufblinken der Kühlschranklämpchen an das Licht der Filmkameras und die plötzliche Gegenwart einer Öffentlichkeit erinnert habe. Inzwischen hat sich dieses Lächeln der Doris Day in eine prophetische Metapher verwandelt, die besagt: Kaum streift das Licht der Kamera die Bewohner dieser Republik, fangen sie an zu lächeln, sich zu verrenken, zu posieren. Sie nehmen, wenn der Aufmerksamkeitsentzug droht, Insekten in den Mund, sie offenbaren Privates und Intimes und tun ganz einfach alles, um medial stattzufinden.

Fernsehformate wie "Deutschland sucht den Superstar" oder "Dschungelcamp" sind gleichermaßen völlig unwichtig, hochgradig erfolgreich - und gesellschaftlich äußerst relevant. Sie sind die Vorboten einer Welt, in der der Imperativ der Casting-Gesellschaft zur Maxime allen Handelns geworden ist: Liefere eine Show!

Längst ist der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit (und eben dies verdeckt der saisonale Hype) Alltag geworden, beschränkt sich nicht mehr nur auf Medienprofis und Prominente. Es werden Köche und Friseure gecastet. Überforderte Mütter, gescheiterte Restaurantbesitzer, verschuldete Handwerker und vereinsamte Milchbauern müssen sich - auf dem Weg zur öffentlichen Therapie in den entsprechenden Sendungen - den Regeln des Fernsehbusiness beugen. Es gibt bzw. gab entsprechende Shows für angehende Politiker ("Ich kann Kanzler!") und mit ihrem Aussehen unzufriedene Jugendliche ("I want a famous face"). Der Bayerische Bauindustrieverband ist inzwischen dazu übergegangen, seine Stellenausschreibungen durch ein "BauCamp" zu ersetzen und imitiert bei der Auswahl der Maurer und Kanalbauer in groben Zügen die Pro-Sieben-Show "Deine Chance": drei Bewerber, ein Job. Im letzten Jahr durften sich - drei Tage lang - die Kandidaten in München-Stockdorf präsentieren. "Die Castingshows", so meinte einer der Initiatoren, hätten gezeigt, "wie wichtig es ist, Bewerber in der Praxis zu erleben."

Entstanden ist, so zeigen solche Beispiele, ein Kult permanenter Selbstdarstellung und der gezielten, medienförmigen Selbstinszenierung, getrieben durch alte und neue Medien, insbesondere das Fernsehen und das Netz.

Eine etwas unheimliche Zahl von Menschen bereitet sich akribisch auf den großen Auftritt und den unendlich verführerischen Moment des Gesehenwerdens vor - ganz gleich, ob dieser auf der eigenen Homepage oder im eigenen Blog stattfindet, kniend vor einem Jurymitglied von RTL oder auf dem Weg in das Dschungelcamp. Tausende stellen ihre Fotos und Filmchen ins Netz.

Jeder Deutsche besitzt statistisch mehr als ein Handy, in der Regel mit Kamera- und Videofunktion. Das heißt, ein ganzes Volk wirkt mit an der Verbreitung einer "indiskreten Technologie" (so der Soziologe Geoff Cooper), die eine fortwährende wechselseitige Beobachtung und ein den Alltag durchdringendes Medientraining erlaubt.

Ausdruck und Folge dieses Trends: Unsere Vorstellung von Prominenz verändert sich. Der Superstar im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit ist nicht mehr der geheimnisvolle Protagonist einer Welt, die ewig unerreichbar bleiben muss, sondern er wird zum möglichen Konkurrenten in einem Spiel, an dem jeder meint, teilnehmen zu können.

Längst gibt es eine größere Zahl von weitgehend selbstreferenziell erzeugten Medienprominenten - ohne besondere Leistung, ohne spezifische Kompetenz, ohne eine per se Interesse weckende gesellschaftliche Stellung (ein hohes Amt, einen berühmten Namen). Sie sind die Neureichen im Aufmerksamkeitsgeschäft. Gänzlich gebrochen ist der Zusammenhang von Status, Leistung, Kompetenz und Bekanntheit schließlich bei einer größer werdenden Schar von Netzprominenten: Hier finden Menschen ein Millionenpublikum, die mit einer einzigen, aberwitzigen Idee bekannt werden - und die schließlich berühmt dafür sind, berühmt zu sein.

Was bedeutet es, wenn der Kult der medienkonformen Selbstdarstellung allgegenwärtig, wenn Casting zur Lebensform wird? Die Folge ist, dass diese Gesellschaft in einen permanenten Inszenierungsverdacht hineindriftet - und sich in einer merkwürdigen Dialektik der Trends kollektiv nach Glaubwürdigkeit und Realitätsgewissheit sehnt. Authentizität wird unter den gegenwärtigen Medienbedingungen unvermeidlich zum Leitwert. Aber was heißt es schon, als authentisch zu gelten? Authentisch sein bedeutet, den Eindruck der Echtheit hervorzurufen, auf dessen Vertrauenswürdigkeit wir uns einigen können. Bis wir den Trick begreifen.