Berlin. Ein Historiendrama über illegale Abtreibungen - plötzlich bitter aktuell: „Call Jane“ mit Elizabeth Banks und Sigourney Weaver.

Chicago, 1968. Joy (Elizabeth Banks) ist eine weiße Hausfrau und Mutter aus einem der wohlsituierten Vororte. Als verzweifelt oder gar unterjocht würde sie sich nie bezeichnen. Ihrem Ehemann Will (Chris Messina) steht sie in Anwaltsbelangen zur Seite, souverän kümmert sie um den Haushalt und die 15-jährige Tochter Charlotte. Alles selbstbestimmt und zufrieden. Bis ein medizinischer Notfall deutlich macht, dass sie viel weniger Kontrolle über ihr Leben hat, als ihr bewusst war. Eine erneute Schwangerschaft ist wegen eines Herzleidens hochriskant, doch ein Abbruch wird ihr verwehrt.

Der Kampf um Abtreibungen schien gewonnen - bis zu diesem Sommer

Abtreibung ist Ende der 1960 Jahre in den USA illegal. In ihrer Not wendet sich Joy an das Jane Collective, eine im Geheimen agierende Organisation, die Frauen zu illegalen, aber medizinisch sicheren Abtreibungen verhilft. Und der Kontakt zu diesen Aktivistinnen unter resoluter Leitung von Victoria (Sigourney Weaver) verändert nicht nur Joys politischen Überzeugungen, sondern ihr ganzes Leben. Sie übernimmt Fahrdienste, betreut Frauen und assistiert schließlich sogar bei Eingriffen. Und aus der recht festgefahrenen Hausfrau wird selbst eine engagierte Kämpferin für die reproduktive Selbstbestimmung.

Das Jane Collective gab es tatsächlich, von Ende der 1960er-Jahre bis zum historischen Urteil Roe gegen Wade 1973, durch den Schwangerschaftsabbrüche in den USA legalisiert wurden. Als der Spielfilm „Call Jane“ Anfang dieses Jahres auf der Berlinale im Wettbewerb lief, wurde er als recht konventionell inszeniertes Historiendrama wahrgenommen, auf Tatsachen basierend zwar, aber von längst überwunden geglaubten Zeiten erzählend.

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Mit den erneuten Abtreibungsverboten im Juni durch den Supreme Court und den Verschiebungen seitdem im Rechtssystem der Vereinigten Staaten erhält „Call Jane“ nun eine bittere Aktualität und Dringlichkeit. Die Drehbuchautorin Phyllis Nagis („Carol“) liefert hier ihr Kinodebüt als Regisseurin und macht dabei nicht viel Aufhebens um ihren Inszenierungsstil.

Ganz unspektakulär und auf Augenhöhe erzählt sie ein intimes Drama, analog auf Film gedreht, was den Bildern eine körnige Textur verleiht, die aus dem Gegenwarts­kino fast verschwunden ist. Dass ausgerechnet die fiktive Selbstermächtigung einer wohlhabenden Anwaltsgattin einnimmt, liegt vor allem an Elizabeth Banks, der es gelingt, eine in ihren Privilegien und politischen Überzeugungen ambivalente Frauen­figur so zu verkörpern, dass sie in ihren Nöten glaubwürdig ist.

Nicht der beste Beitrag zum Thema, aber dennoch sehenswert

Beim Thema reproduktive Rechte gibt es längst nicht nur in den Vereinigten Staaten erneut herbe Rückschläge. Auch mitten in Europa, in Polen etwa, müssen Frauen um hart erkämpfte Freiheiten fürchten. Von Frauen geschriebene und inszenierte Filme wie zuletzt „Das Ereignis“, die Adaption des gleichnamigen Erinnerungsbandes von Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, treffen dabei, obwohl lange vor der Verbotswelle entstanden, einen Nerv.

„Call Jane“ ist in seiner wenig kontroversen Art sicherlich nicht der beste Beitrag zur Debatte. Berührend und mit seiner hochkarätigen Besetzung durchaus sehenswert ist das Drama allemal.

Drama USA 2022 121 min., von Phyllis Nagy, mit Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Chris Messina