Generationengespräch: Die ARD-Korrespondenten Ariane Reimers und Jürgen Bertram über Trinkgelage, Bestechung und das Leben in China.

Hamburg. Sie kennen sich natürlich - aus dem Fernsehen. Unsere Einladung zum Interview aber ist ihr erstes Treffen, und sofort erzählen sie los, fragen sich aus, vergleichen Erfahrungen. Ariane Reimers, Jahrgang 1973, und Jürgen Bertram, Jahrgang 1940, trennen 33 Jahre. Was sie jedoch verbindet, ist eine 5000 Jahre alte Kultur und verblüffende Veränderungen in einem Land, das beide (Bertram als Wegbereiter, Reimers als aktuell Verantwortliche) als ARD-Korrespondenten kennen: China. Das Klischee des Nachmittags-Whiskys gehört auch in Asien der Vergangenheit an. Dafür gibt es heute den einen oder anderen Reisschnaps...

Abendblatt: Frau Reimers, als ARD-Korrespondentin in Peking nutzen Sie ein Studio, das Jürgen Bertram 1985 als allererster ARD-Mann in der chinesischen Hauptstadt in Betrieb genommen hat. Sind Sie auf Hinterlassenschaften von ihm gestoßen?

Ariane Reimers: Chen!

Wer ist Chen?

Jürgen Bertram: Das war unser Dolmetscher.

Reimers: Mittlerweile ist er so etwas wie der Office-Manager. Er ist die Geschichte des Studios. Er hat viel erlebt, kennt viele Leute. Er erledigt Behördengänge für uns, kümmert sich um Visa, solche Sachen. Wir haben gerade wieder Probleme mit einem Visum gehabt. Das kann nach wie vor sehr schwierig sein, hat sich jetzt glücklicherweise aber geklärt.

Dabei hat sich in China seit Ihrer Zeit, Herr Bertram, vieles radikal verändert. Nicht auch zum Besseren?

Bertram: Warum soll sich ein Land, das eine 5000 Jahre alte Kultur für sich reklamiert, sich in 20 Jahren radikal ändern? Der Markt hat sich geöffnet. Aber das Denken ist nach wie vor bäuerlich und feudalistisch.

Reimers: Das sehe ich auch so. Wenn Leute zum ersten Mal nach China kommen und die modernen Städte sehen, sind sie ganz überrascht wie entwickelt und modern das Land ist. Aber es gibt nach wie vor kommunistisches Kaderdenken und sozialistische Bürokratie.

Bertram: Es wird auch immer wieder vergessen, dass sehr viele Betriebe in Staatshand sind und von Kadern betrieben werden, die davon persönlich profitieren.

Haben sich denn die Arbeitsbedingungen der Auslandskorrepondenten verändert? Sie, Herr Bertram, haben sich früher ja einen Spaß daraus gemacht, Ihre Aufpasser zu filmen.

Reimers: Diese Aufpasser, die in China Wai Bans hießen, gibt es seit 2007 nicht mehr. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking wurden sie abgeschafft. Als ich 2005 das erste Mal in China gearbeitet habe, musste ich auch noch mit Wai Bans durchs Land reisen. Dass es sie nicht mehr gibt, ist eine deutliche Verbesserung. Mit Ausnahme von Tibet und den tibetischen Gebieten können wir jederzeit fast überall hinfahren. Das heißt nicht, dass wir unbeobachtet wären.

Bertram: Zu meiner Zeit war es äußerst kompliziert, durch das Land zu reisen. Man konnte beispielsweise Flüge nur in eine Richtung buchen. Wenn wir etwa in die Provinz Sichuan fliegen wollten, um einen Beitrag über die Ein-Kind-Politik zu machen, konnten wir nur den Hinflug in die Hauptstadt Chengdu buchen.

Reimers: Nein! Tatsächlich?!

Bertram: Fragen Sie Chen! Den Rückflug mussten wir dort buchen Und wenn wir Pech hatten, war er 14 Tage im Voraus ausgebucht.

Dann gab es 14 Tage keine ARD-Berichte aus China?

Bertram: Das hätte passieren können. Es ist nicht passiert, weil sich meist nach zwei oder drei Tagen Mittel und Wege gefunden haben, das Problem zu lösen. Durch Bestechung zum Beispiel. Man brauchte nur 50 Dollar in den Reisepass zu legen, schon gab es ein Rückflugticket.

Ist Bestechung auch heute noch ein Thema?

Reimers: Nicht bei uns. Manches würde vermutlich leichter gehen, aber wir dürfen das auch gar nicht mehr. Zudem wäre das Risiko zu groß, dass jemand uns deswegen anzeigt. Nach dem Motto: Jetzt versucht dieser Ausländer auch noch, uns zu bestechen.

Gibt es denn noch den Auslandskorrespondenten Typ alter Haudegen, der im Foreign Correspondents’ Club in Hongkong beim Whisky vom Vietnam-Krieg erzählt?

Bertram: Auf solche Typen bin ich früher noch gestoßen. Und wenn Peter Scholl-Latour heute nach Hongkong fliegt, geht er bestimmt als erstes in den Foreign Correspondent’s Club, um Kameraden zu treffen. Aber diese Art ist so gut wie ausgestorben. Der Druck ist heute viel größer. Man kann es sich gar nicht mehr leisten, am Nachmittag an der Bar Whisky zu trinken, weil man die „Tagesthemen“ und das „Morgenmagazin“ noch bedienen muss. Früher waren die Arbeitsabläufe andere: Als ich das erste Mal aus Singapur berichtete, haben wir noch auf Film gedreht. Nach dem Dreh dauerte es ein paar Stunden, bis das Material kopiert war. Es gab eine Phase der Kontemplation. Dann setze man sich in den Schnitt und schickte das Ganze mit dem Flugzeug nach Hamburg. Es gab also viel mehr Zeit, nicht nur das zu zeigen, was ist, sondern auch zu zeigen, warum es so ist. Das habe ich als großen Vorteil empfunden.

Reimers: Das hat sich gar nicht so sehr geändert. Den Luxus, uns auf Features ausführlich vorzubereiten, haben wir immer noch. Im Juli planen wir beispielsweise eine Reise nach Xinjiang. Und natürlich lese ich vorher jede Menge Bücher über die Geschichte Zentralasiens. Außerdem gibt es in China kaum Pressetermine, die unbedingt in die aktuellen Nachrichten müssen. Sehr viel findet hinter verschlossenen Türen statt. Wir müssen da deuteln. Es gibt diesen News-Druck nicht, den Sie etwa in Amerika haben.

Bertram: Man ahnt Dinge voraus. Irgendwann tauchte in Peking Erich Honecker auf. Daraus konnte man schließen, dass China das Eis gegenüber der Sowjetunion brechen wollte. Wie es chinesische Art ist, wurde also der zweite Mann des Ostblocks eingeladen, um dem ersten Mann ein Signal zu geben. Ich habe damals erfolgreich dafür gekämpft, dass das in der „Tagesschau“ gebracht wird. Heute wäre das wohl nicht mehr möglich.

Reimers: Das stimmt nicht. Die Geschichte um die Entmachtung des ehemaligen Politbüro-Mitglieds Bo Xilai, der sich Hoffnungen machte in dessen Ständigen Ausschuss aufzusteigen, der China de facto regiert, konnte ich im April in den „Tagesthemen“ unterbringen – obwohl in Deutschland wohl nur wenige etwas mit dem Namen Bo Xilai anfangen können. Solche Geschichten muss man machen, denn sie weisen auf Differenzen innerhalb der Führungsgremien der chinesischen KP hin, von denen man sonst kaum etwas mitbekommt.

Was hat sie beide bewogen, überhaupt Auslandskorrespondent zu werden?

Bertram: Das ist nach wie vor ein Traumjob. Ich habe für verschiedene NDR-Redaktionen des Ressorts Zeitgeschehen gearbeitet, unter anderem für „Panorama“. Dessen damaliger Leiter Winfried Scharlau hat mich hin und wieder an Schauplätze wie Afghanistan geschickt, wo man sich bewähren musste. Dann ging Scharlau nach Singapur. Und weil er dort einen zweiten Mann brauchte, hat er mich nachgeholt. Und nach zwei Jahren Singapur kam das China-Angebot.

Reimers: Ich habe mich schon immer für das Ausland interessiert und deshalb in Argentinien studiert. Aber letztlich bin ich durch einen Zufall Auslandskorrespondentin geworden. Während des Tsunamis Weihnachten 2004 war ich privat in China. Das war für mich die Gelegenheit in das Katastrophengebiet im indonesischen Aceh zu fahren. Dort konnte ich mich beweisen. So kam ich irgendwann nach Singapur, wo Robert Hetkämper einen zweiten Korrespondenten suchte.

Allein unter Männern sind Sie nicht mehr – trotzdem: Ist es in Zeiten von Antonia Rados und Christiane Amanpour für eine Frau ganz normal Auslandskorrespondentin zu sein, auch wenn die Mehrzahl Ihrer Kollegen nach wie vor Männer sind?

Reimers: Ich hatte nie Probleme. Aber es gibt für Frauen schwierige Berichtsgebiete wie etwa Afghanistan. Man kann dort zwar mit Frauen Geschichten machen – eine Welt, die männlichen Korrespondenten verschlossen ist. Aber in anderen Bereichen haben Sie dort als Frau Probleme.

In China nie?

Reimers: Nein. Es gibt sogar Vorteile: Als Frau kann ich mich leichter den dort üblichen Reisschnaps-Saufgelagen entziehen.

Bertram: Beneidenswert. In meinen acht Jahren musste ich als China-Korrespondent an 400 Banketts teilnehmen. Ist das heute immer noch so?

Reimers: Oh ja, mit Tanzen und Singen. Man muss bei solchen Anlässen das Glas in einem Zug leeren und sich auf den Kopf stellen. Ich vermeide das und singe dann lieber.

Was singen Sie denn?

Reimers: Kürzlich habe ich „Im Frühtau zu Berge“ gesungen. „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ habe ich auch schon mehrfach vorgetragen.

Bertram: Ich habe gern „Sah ein Knab ein Röslein“ gesungen und manchmal auch, ganz frech, „Die Gedanken sind frei“. Und Chen, unser damaliger Dolmetscher, sang immer „Die letzte Rose in meinem Garten“.

Reimers: Oh, großartig, das muss er mir vorsingen!

Der Dolmetscher muss doch immens wichtig für Sie gewesen sein, weil Sie im Zweifel nicht wussten, ob das stimmt, was er da übersetzt.

Bertram: Chen befand sich damals in einem permanenten Loyalitätskonflikt. Er war angestellt beim Amt für Ausländer und wir haben es oft in der Provinz erlebt, dass er angepöbelt wurde, weil er für uns Ausländer gearbeitet hat. Und dann kam die Niederschlagung des Studentenaufstands 1989. Das war für unser gesamtes Team eine massive Loyalitätsprobe, aber es stand auf unserer Seite. Der Vater eines chinesischen Tonkollegen beispielsweise war General. Er informierte uns über die Truppenbewegungen.

Reimers: Wir haben heute viel mehr chinesische Mitarbeiter. Das von Ihnen angesprochen Amt spielt nach wie vor eine Rolle. Aber unsere Mitarbeiter sind dort nicht mehr angestellt. Es sind unsere Mitarbeiter. Wir dürfen sie uns auch aussuchen.

Bertram: Wir konnten das nicht.

Reimers: Die Mitarbeiter werden von den Behörden wohl aber nach wie vor zum Tee eingeladen und über unser Studio befragt, so genau wissen wir es aber nicht.

Herr Bertram, wie bequem haben Sie gelebt, als Sie damals das Studio aufbauten?

Bertram: Nicht sehr bequem. Die Wohnung gehörte zum Studiokomplex. Neben dem Schlafzimmer ratterte das Telexgerät. Einmal besuchte der damalige NDR-Intendant Jobst Plog Peking, um einen Vortrag über das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu halten. Er wollte den NDR-Staatsvertrag mitbringen, hatte ihn aber vergessen. Daraufhin schickte ihm seine Sekretärin in Hamburg den gesamten Staatsvertrag via Telex. Ich fühlte mich wie im Krieg. Die ganze Nacht ratterte das Telexgerät.

Sie waren damals mit Ihrer Frau dort. Kinder haben Sie beide nicht...

Bertram: Ich musste mich entscheiden zwischen Kindern und Karriere. Meine Frau, die auch Auslandskorrespondentin war, und ich wollten unseren interessanten Beruf nicht aufgeben.

Reimers: Ich glaube, dass der Beruf des Auslandskorrespondenten heute mit Kindern vereinbar ist. Ich habe zwar keine, bin aber auch noch nicht verheiratet. Meine Kollegin ist aber mit ihrer gesamten Familie in Peking.

Möglicherweise ist das ja auch eine Frage der Verantwortung. Sie begeben sich in Ihrem Beruf hin und wieder in Gefahren und Katastrophen; wie schaffen Sie es, da gelassen zu bleiben?

Reimers: Das Berichterstatten hilft.

Bertram: Ja, das Handwerk schützt. Ich war oft in bürgerkriegsähnlichen Situationen in Ost-Timor, in Panjab und in Kaschmir. Und wenn es da plötzlich knallte, dann fühlte ich mich wie im Film. Man schiebt das weg und konzentriert sich aufs Handwerk. Man muss verantwortungsbewusst handeln, um die Kollegen und sich zu schützen.

Sie, Frau Reimers, haben vergangenes Jahr lange aus Japan über die Reaktorkatastrophe von Fukushima berichtet. War Ihnen da nie mulmig zumute?

Reimers: Wir waren ja eigentlich wegen des Tsunamis nach Japan geflogen. Dass in Fukushima ein Kernkraftwerk explodiert ist, habe ich erst nach unserer Landung erfahren, als ich auf dem Display meines Smartphones gesehen habe, wie das Ding in die Luft gegangen ist. Da habe ich mich schon etwas unwohl gefühlt und mich kurz gefragt: Was machen wir hier eigentlich?

Ist Abenteuerlust eine entscheidende Eigenschaft für einen Auslandskorrespondeten?

Bertram: Vielleicht kann man es mit einer Fußball-Vokabel gut erklären: Kontrollierte Offensive, sagt man da.

Reimers: Im Zweifel lieber einen Schritt weniger.

Herr Bertram, als Sie das Studio in Peking aufbauten, gab es das Internet, so wie wir es heute kennen, noch nicht. Was haben Sie vom aktuellen Geschehen in Deutschland mitbekommen?

Bertram: Die deutsche Wiedervereinigung ist damals an mir vorbeigegangen. Das chinesische Fernsehen hat sich ja nicht getraut, Bilder von demonstrierenden Bürgern zu zeigen.

Reimers: Wie haben Sie denn dann davon erfahren?

Bertram: Dadurch, dass wir in internationale Hotels gegangen sind und dort CNN geguckt haben. Und wir haben uns Kassetten über die aktuellen Ereignisse zuschicken lassen. Die trafen aber erst mit Verzögerung ein.

Reimers: Konnten Sie Zeitungen kaufen?

Bertram: Wir hatten Zeitungen abonniert, die uns aber ebenfalls erst mit Verspätung erreichten.

Wurden die zensiert?

Bertram: Bisweilen schon. Einige Artikel waren geschwärzt, mache Zeitungsexemplare kamen gar nicht erst an. Es ist übrigens auch passiert, dass wir bestimmte Beiträge gar nicht über den Satelliten nach Deutschland senden konnten – angeblich wegen technischer Probleme.

Reimers: Das geht heute technisch gar nicht mehr. Es gibt heute drei, vier technische Wege über die wir unsere Beiträge absetzen können. Zensur über „technische Probleme“ auszuüben, ist nicht mehr möglich. Zeitungen werden aber immer noch zensiert, die Stellen der Zensoren sind offenbar noch nicht abgebaut. Was absurd ist, weil man ja die Originalartikel im Internet nachlesen kann. Und praktisch jeder städtische chinesische Haushalt hat heute einen Internetzugang.

Sie sind beide über Singapur nach China gekommen, aber auch sonst mehr gereist als viele andere. Was war denn der schönste Ort, an dem Sie je gewesen sind?

Bertram: Laos. Das ist eine ganz andere vom Buddhismus geprägte Welt. Man ist fern von Hektik. In Asien habe ich übrigens Europa und Deutschland schätzen gelernt. Unsere Gesellschaft, finde ich, funktioniert passabel. Sie schafft eine soziale Gerechtigkeit, wie ich sie in keinem der Länder erlebt habe, in denen ich als Korrespondent tätig war.

Reimers: Mir geht es, was Deutschland und Europa angeht, ebenso. Meine Liebe gehört aber Argentinien. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich dorthin gehen. Aber für Argentinien ist in der ARD nicht der NDR, sondern der SWR zuständig.

Sprechen Sie beide eigentlich Chinesisch?

Reimers: Ja, ich hatte aus Spaß schon in Hamburg damit angefangen, bevor ich wusste, dass ich als Korrespondentin nach Peking gehen würde. Ich habe ein Faible für Sprachen.

Bertram: Ich habe Ihre Frage befürchtet. Aber ich will ehrlich antworten: Es ist der größte Fehler meiner journalistischen Laufbahn, dass ich nicht genügend Chinesisch gelernt habe.

Im "Generationengespräch" laden wir Künstler und Medienschaffende unterschiedlichen Alters zum Interview. Nächste Woche sprechen wir mit den Filmemachern Özgür Yildirim und Hark Bohm. Alle Gespräche: www.abendblatt.de/generationengespraech