Choreograf John Neumeier und Komponist Michel Legrand bringen “Liliom“ mit dem Hamburg Ballett zur heftig umjubelten Uraufführung.

Hamburg. Vor 150 Jahren wäre der Verleger des Komponisten beim Schlussapplaus aufgesprungen, in den Abend hinausgeeilt, hätte seinen Kopisten aus Bett oder Wirtshaus gezerrt und schon mal die Druckmaschinen warmlaufen lassen. Am nächsten Morgen wären Burschen durch die Straßen der Stadt gezogen und hätten für zwei Groschen das über Nacht vervielfältigte Notenblatt mit den paar Takten Musik verkauft, die am Vorabend wieder und wieder in der Ballettvorstellung in der Oper erklungen waren.

+++ Fulminanter Erfolg für "Liliom" +++
+++ John Neumeiers Tanzen über die Liebe +++

Noten fürs Volk sind aus der Mode gekommen. Auch die Zeiten, in denen Bühnen-Hits rasch auf Schallplatte gepresst wurden, gehören der Vergangenheit an. Deshalb bleibt der waschechte Ohrwurm, den der Komponist Michel Legrand für John Neumeiers Choreografie zu Ferenc Molnárs "Liliom" gezüchtet hat, vermutlich vorerst technisch unreproduziert. Er setzte ihn dem Uraufführungspublikum am Sonntag in der Staatsoper im ersten Pas de deux zwischen Liliom (Carsten Jung) und dem Mädchen Julie (Alina Cojocaru) tief in die Gehörgänge. Doch bald wollte einem die nun leitmotivisch eingesetzte Seufzermelodie von der unmöglichen Liebe zwischen zwei armen Leuten, die wie in Cole Porters "Everytime We Say Goodbye" so bittersüß von Dur nach Moll wechselt, wieder zu den Ohren herauskommen. Das gelang aber nicht, denn das Orchester schob das tyrannische Tierchen immer wieder dorthin zurück. So wandelte sich während der Vorstellung die Freude über eine Melodie, schön und tief wie dunkler Honig, bald in Überdruss. Legrand, offenkundig rettungslos dem eigenen Einfall verfallen, ritt selbigen ausführlich zu Tode.

Dabei hat der Filmmusik- und Jazzgigant für "Liliom" eine ansprechende, üppige, stellenweise süffige Musik für bis zu drei mitunter parallel agierende Klangkörper geschrieben. Die Philharmoniker im Graben erweckten unter der Leitung Simon Hewetts mit ordentlich Streicherschmelz, viel solistisch eingesetzten Holzbläsern und einem um Vibrafon und Marimba erweiterten Schlagzeugapparat eine an schon etwas betagte Hollywood-Filme erinnernde Orchesterpartitur zum Leben; die NDR Bigband, die hoch über dem Bühnengeschehen thronte, beschwor einen Sound zwischen Broadway und Las Vegas herauf, bei dem man sich unentwegt auf den Auftritt eines Glitzerboys vom Schlage Frank Sinatras gefasst machte; und ein Akkordeonist, der von Zeit zu Zeit als einsamer Bühnenmusiker für Jahrmarktstimmung sorgte, zitierte einmal sogar "Lost In The Stars" von Kurt Weill.

Neumeier erzählt die Geschichte von ihrem Ende her, an dem Liliom nach 16 Jahren Läuterung im himmlischen Rosenfeuer auf die Erde zurückkehrt und inkognito Frau und Kind besucht. Dass der Choreograf aus Lilioms und Julies Tochter Luise, die ihren Selbstmörder-Vater nie sah, einen Louis macht, liegt in der Logik des Tanzes. Ein Mädchen könnte tänzerisch seine verwirrende Blutsverwandtschaft zu dem Fremden nur schwer erahnen.

Neumeier findet für Louis, dieses große Kind an der Schwelle zum Erwachsensein, ein ungemein vitales Körpervokabular. Aleix Martínez tanzt mit der geballten, fortwährend zur Explosion drängenden Kraft der Jugend. Seine wilde Anmut reibt sich an der seines aus dem Jenseits zu ihm tretenden Erzeugers Liliom, weil sie ihr so verzweifelt ähnelt. Deutlicher noch wird dies im letzten Bild, das wie ein alternatives Ende zur Geschichte Neumeiers Anfang variiert. Diese universelle, zugleich ganz der Welt des Theaters gehörende Vater-Sohn-Beziehung ist vielleicht die eindrücklichste in "Liliom".

Zu schmissigen Bigband-Sounds, wundervoll mondän und zugleich gekränkt und zickig ob Lilioms Abfuhr, tanzt Anna Polikarpova dessen ehemalige Arbeitgeberin Frau Muskat. Auch Edvin Revazov in seinem weißen Lackfrack brennt sich als offenbar hochneurotischer, ganzkörperlich von entzückenden Ticks besessener Konzipist im Jenseits unauslöschlich ins Gedächtnis.

Die herbe, dabei federleichte Alina Cojocaru bringt ein Frauenbild auf die Bühne, das eine ganz junge Tänzerin ebenso unmöglich verkörpern könnte wie ein weniger reifer Solist als Carsten Jung den Liliom; die beiden Hauptfiguren - auch der schön dämonisch zucktanzende Lloyd Riggins mit seinem schütteren Haar als Bösewicht Ficsur - zeigen Ballett, vermeintlich die Domäne nymphenjunger, graziöser Elfen und viriler Sprungprinzen, als eine Kunstform, in der auch Leben jenseits der 22 verhandelt werden kann. Wer jetzt Pina Bausch ruft, darf nicht vergessen, dass Neumeier kein Tanztheater macht. Auch ein so starkes Handlungsballett wie "Liliom" erzählt er fast ausschließlich mit den Mitteln des klassischen Balletts. Wie häufig in seinen Kreationen bezahlt man die Körperweisheit dieses Choreografen mit manchen allzu plakativen Bildern und Manierismen. Und so amerikanisch wie im "Liliom" zeigte er seine singuläre Bühnenkunst lange nicht mehr. Altersheimweh?